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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [12]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0290

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MODERNE KUNST,

201

Sespannt und war endlich noch einmal in das nun ein wenig wüst aus-
sehende Comptoir zurückgekehrt, um das Wichtigste zu holen, den kleinen
^andkoffer, dessen innere Deckeltasche ein ansehnliches Sortiment von
ßank- und Kassenscheinen barg, das Resultat von Brechtling’s geheimer
ßhätigkeit während seines siebenjährigen Aufenthalts auf Templin.

Er, der eben noch ingrimmig mit den Zähnen geknirscht hatte, lächelte
üun, halb spöttisch, halb bewundernd. Spöttisch — er stellte sich Herrn
von Rocholl’s Gesicht vor bei der Entdeckung, dass sein Hungerloos einen
Andern so reichlich genährt hatte; bewundernd —

Er hatte geglaubt, alle Falten im Charakter seines Chefs durchstöbert
zu haben, und hatte sich dennoch geirrt. Der Baron war doch ein schlaues
I'üchschen. Er hatte es jetzt wohl schon gethan das Einzige, was ihn
von dem Rüsselthier — oh, Brechtling war auch hierüber unterrichtet! —
befreien konnte: er hatte offen vor aller Welt die Wahrheit verkündet.
Schlau, bewunderungswürdig schlau!

Aber der Ameisenlöwe war doch noch schlauer. Hätte er sich sonst
jahrelang die Unbequemlichkeit gemacht, alle seine mühsam errungenen
Besitzthümcr in Kisten wohlverpackt aufzubewahren, anstatt in Schubladen,
Kleiderspinden und dergleichen unpraktischen Möbeln, aus denen man sie
nur mit grossem Zeitaufwande zusammensuchen konnte?

Schade nur, dass er nun scheiden rnusste! Er hatte sich so nett, so
profitabel in die Verhältnisse eingelebt! Was für ein guter, weicher Kerl
er doch war, dass es ihm ordentlich schwer wurde zu gehen! Aber er
rnusste. Die polnische Bettelei des armen Hungerleiders hatte es ihm
deutlich gezeigt, dass es Zeit war. Eine Rechnungslegung —

Er schüttelte sich mit einem kichernden Gelächter. Dann streifte sein
Blick die Flasche aut' dem Tische, die er vorhin aus dem Handkoffer her-
ausgenommen und dorthin gestellt hatte. Ein Rest jenes famosen Weines
War noch darin von damals, da ihm Leo, die wilde, rebellische Ameise,
durch Otti’s Kutscher in den Sandtrichter getrieben worden war.

Sie hatten doch nette Mädels, diese Rocholl’s. Er hatte sie recht von
Herzen gern. Was für ein hübsches, molliges Nestchen würde er dieser
sanften, scheuen, zierlichen Mia zusammengetragen haben, wenn nicht —

Bah! In der Welt da draussen gab’s ebenso sanfte, scheue, zierliche!
Hurrah, die Welt!

Und Herr Theodor Brechtling schwenkte mit der Linken den kost-
baren Handkoffer hoch in die Luft und mit der Rechten goss er den
Weinrest aus der Flasche in das daneben stehende Wasserglas; ganz wie
damals. Und auch ganz wie damals hob er es empor und zwinkerte halb
pfiffig, halb wehmü-thig mit den schwimmenden Aeuglein.

„Prost, Barönchen! Auf Dein Hungerloos!“

Und das Barönchen öffnete die Thür. Und Herr Theodor Brechtling
setzte das Glas schnell wieder auf den Tisch und liess den Handkofifer
fallen. Und ein niederschmetternder Gedanke fuhr ihm durch den Kopf.

Hergott, war dieser Herr von Rocholl am Ende noch schlauer?

Sein Blick zuckte scheu und forschend zu dem Gesichte des Eintreten-
den hinüber. Was er dort sah, liess ihn aufathmen. So verstört, so haltlos
und elend kann nicht aussehen, wer den Richter spielen wollte!

Ja, elend war Herr Winand von Rocholl. Sein neuer, eleganter Ge-
sellschaftsanzug zeugte von seiner achtlosen Wanderung durch Feld und
Wald, und der innere Kampf hatte die Sorgenfalten um Stirn und Wangen
vertieft. Nun glich er in nichts mehr dem jovial lächelnden, plötzlich wie
mit neuer Jugend begabten Manne, der mit Scherzreden und Neckereien
seine Gäste in so übersprudelnder Laune empfangen hatte.

Er liess einen geistesabwesenden Blick durch das Zimmer irren und
sank dann erschöpft auf einen Stuhl.

Brechtling zuckte gleichmüthig die Achseln und schob den Handkoffer
heimlich mit dem Fuss unter den Tisch. Dann nahm er das Wasserglas
mit dem Rest Rüdesheimer und näherte sich seinem Chef.

„Der Herr Baron scheinen ein wenig echauffirt!“ sagte er mit be-
scheidener Besorgniss. „Dürfte ich mir gestatten, Ihnen ein Glas Wein . . .?
Es ist zwar nur gewöhnlicher Kutscher . . .“

Herr von Rocholl fuhr auf und starrte ihn an. Es war klar, dass er
nun erst sah, wo er sich befand.

„Brechtling, Sie?“ murmelte er wieder zurücksinkend. „Was . . oh,
Gott, was nun?“

„Wenn der Herr Baron mir erklären möchten . .

Herr von Rocholl schaute auf.

„Erklären? Sie waren doch dabei, als . . .“

„Verzeihung, aber ich bin gleich nach Haus gefahren, nachdem der
Ilerr Baron eine Rechnungslegung für morgen befohlen hatten. Wenn
auch selbstverständlich Alles in Ordnung ist; so sind doch immer einige
kleine Vorbereitungen zu treffen, damit Alles übersichtlich geordnet ist
und nicht zu viel Zeit verloren geht. Wenn der Herr Baron es jedoch
jetzt sofort wünschen, so . . .“

Jener winkte schwach ab.

„Sie wissen also noch nichts, Brechtling?“

„Nichts, Herr Baron!“

Herr von Rocholl stand schwerfällig auf und sah ihm starr in’s Gesicht.

„Er ist wieder da! Der Amerikaner, der Todte. Und nun ist Alles
verloren!“

Der Oberinspector fuhr zurück und wurde blass. Glcich darauf aber
blitzte es in seinen Augen auf, und ein verstohlenes Lächeln des Triumphes
schlich um seine dicken Lippen.

„Ah! Ihr Stiefbruder? Der Fritz von Rocholl, der vor achtzehn
Jahren spurlos verschwand und auf dessen Lotterieloos Sie ..."

Herr von Rocholl liess sein Haupt auf die Brust sinken.

„Ja, das Hungerloos! Und ich,“ — er stöhnte mit einem Groll auf —
„ich habe ihm das Geld verwaltet, wie’s ein Vater nicht für sein Kind
gethan hätte! Ich habe damit gewuchert und es auf’s Doppelte gebracht,
und die Meinen haben dabei gehungert! Konnt’ ich denn ahnen, dass er
je zurückkommen wiirde? Warum hat er sich auf meine vielen Aufrufe
nicht gemeldet? Und nun, da ich’s schon gewonnen zu haben glaubte,
da ich dachte, endlich aufathmen und dem jämmerlichen Leben ein Ende
machen zu können, nun — Herrgott, was nun? Was nun?“

Er presste seine Hände in einander und schwankte mit schweren
Schritten zu dem Fenster, vor dem er briitend stehen blieb.

Aus Brechtling’s Augen schoss ihm ein blitzartiger Strahl höhnischer
Schadenfreude nach.

„Was nun?“ wiederholte er wie sinnend. „Ein heimtückischer Schlag!
Natürlich werden der Herr Baron das schöne Geld und die Güter dem
Herrn Stiefbruder ausliefern .?“

Herr von Rocholl machte eine jähe Bewegung, dann drückte er die
glühende Stirn gegen die Fensterscheibe, um schweigend auf den abend-
dämmernden Hof hinauszustarren. Und eine Weile war eine drückende
Stille im Zimmer.

Brechtling seufzte.

„Gewiss, es ist schwer!“ fuhr er vorsichtig tastend fort. „Besonders
für den Herrn Baron, der die Güter erst zu dem gemacht haben, was sie
jetzt sind. Gott, wenn ich daran denke, wie sie noch vor sieben Jahren
aussahen, als ich herkam. Da warTemplin schmählich herabgewirthschaftet,
und die Hälfte von Amalienruh lag brach. Und nun — so was von
Wirthschaft giebt’s sonst in der ganzen Provinz nicht; wirkliche Muster-
güter sind’s heute. Na ja, sie waren in der rechten Hand. Ein Anderer
hätte das nie gekonnt. Weil dem eben die rechte Liebe dazu gefehlt hätte.
Wer sitzt denn heutzutage noch auf altem Familienbesitz? Gott sei’s ge-
klagt, die Meisten betrachten den Grund und Boden, der sie nährt, ja wie
eine Art von Waare, käuflich für Jeden, der einen besseren Preis dafür
bietet! Und sö zerstückeln sie’s, was die Väter mühsam zusammengebracht,
und verschleudern’s an Krethi und Plethi. Geschweige denn, dass es Einem
noch einfiele, den verlorenen Besitz seiner Familie wieder in seine Hand zu
bringen, und darauf zu sitzen wie ein König; wie’s in alten Zeiten war. Und
nun wird s aueh mit Templin und Amalienruh so werden. Und darum ist’s
für den Herrn Baron doppelt schwer, sie so in’s Ungewisse hinein zu . . .“

Die Schultern des alten Mannes am Fenster zuckten.

„Hören Sie auf, Brechtling!“ schrie er gequält. „Ich kann’s nicht er-
tragen, das Bild, und . .“

Er murmelte etwas Unverständliches in sich hinein und wieder war
es eine Zeit lang still im Zimmer.

Und draussen unter dem dunlder werdenden Himmel verschwammen
die Schatten der Gegenstände in einander und bildeten eine formlose,
nebelhafte Masse, aus der kein unterscheidendes Merkmal mehr hervorragte.

Ein Bild der Zukunft däuchte es dem Schauenden. Bis hinter ihm die
süsslich weiche Stimme auf’s Neue ertönte. [Schiuss foigt.]

IX. 13. III.
 
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