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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Kirchbach, Wolfgang: Der Wein, [5]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0392

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302

MODERNE KUNST.

er vvusste, vvas der Alte für die Spurmann’schen Weingärten bedeutete, selbst
Herr Desire Müller schaute betreten vor sich, ging dann aber schnell voran,
um sich mit eigenen Augen von dem traurigen Ereigniss zu überzeugen.

AIs sie oben den Hof betraten, sahen sie eine kleine Menschenansamm-
lung um einen Mittelpunkt sich bewegen. Winzerinnen und Weinbergs-
arbeiter mit ihren Radehauen und Zughacken in der Hand standen mit
neugierig erschauernden Gesichtern zusammen; Böttcher und Küper in
ihren Lederschürzen waren aus ihren Kellern heraufgekommen und er-
örterten den auffälligen Unglücksfall. Auf einer Bahre, die man in der
Eile aus übereinander gelegten Weinpfählen gezimmert hatte, lag der zu-
sammengekrümmte Körper des todten alten Mannes auf einem Lager von
Reisig, wie man es im Berge zusammengerafft hatte. Stumm schauten
Einige auf die zusammengeschrumpfte Gestalt, die selbst nur noch ein
altes, verknorrtes Wurzelgerinne schien, mit ihren knochigen, braunen
Mumienarmen und der braunen Brust. Horst und ein anderer Winzer,
welche die Bahre heruntergebracht hatten, standen am Kopfe und zu
Füssen des Verunglückten.

Spurmann und seine Begleiter bhckten lange. stumm in die räthselhaft
verschlossenen Züge des Todten, welche irgend etwas Geheimnissvolles
zu verbergen schienen. Der fest zusammengezogene Mund, die merk-
vvürdig nach unten verzogenen Wangen über dem Jochbogen und das
tief in sich versenkte, geschlossene Auge, alles hatte den Ausdruck eines
unverbrüchlichen Schweigens über ein fest bewahrtes Geheimniss.

„Er sieht gerade aus, als wollte er im Himmel kein Wort verrathen
von dem, was man alles in dieser Welt erlebt, damit die Engel nicht
erfahren, wie’s auf der Erde zugeht,“ sprach der Chef ns.chdenklich. Nun
blickten auch alle Anderen das Gesicht des Todten sich näher an; Allen
fiel gleichermaassen dieser verschwiegene und verheimlichende Ausdruck
auf und man flüsterte einander zu, der Alte musste mal irgend etwas auf
dem Gewissen gehabt haben und irgend ein Geheimniss mit sich in’s
Grab nehmen, wenn man nur wüsste, was das wäre! —

Horst erzählte eben dem Herrn den Hergang, wie sie den Alten auf
einem Pfahl vor einer halben Stunde am Fusse einer Mauer gefunden
hätten, als Rüdig mit seiner Schwägerin Martha auch herangetreten kam,
um dcn Alten noch einmal zu sehen. Martha schaute etwas zaghaft herüber,
als fürchte sie sich, einen Todten zu sehen; ihr Auge fiel dann auf Horst
und sie senkte es mit einem verschleierten Ausdrucke. Sie dachte daran,
dass sie in der letzten Nacht den kühnen Mann über ihre Mauer hatte
steigen und vor ihrem Fenster stehen sehen, worauf er wieder ver-
schwunden war.

Als Horst das Mädchen erblickte, kam auf einmal in seinen Bericht
an den Herrn eine gewisse innere Aufregung. Seine Züge bekamen eine
wundersame Verklärung; er sah so hübsch aus, so feurig und geheimniss-
voll, dass es allen Mädchen auffiel. Er berichtete, als er in der Dunkelheit
von einem Spaziergange durch den Berg heimgekehrt sei, habe er im
Mondschein den Alten noch auf einer Weinbergsterrasse stehen sehen,
als habe er noch so spät gearbeitet; wahrscheinlich habe der Mann im
Dunklen den Weg verfehlt und sei von einer Terrasse abgestürzt.

Rüdig trat vor und reichte in seiner treuherzigen Art dem reichen
Nachbarn die Hand.

„Sie haben einen schweren Verlust erlitten, Herr Spurmann, ich weiss,
was Ihnen der Mann werth gewesen ist; Sie werden nicht leicht einen wieder-
finden, der ein so erfahrener Winzer ist; wir haben Alle von ihm gelernt.

„Es ist Niemand unersetzlich!“ bemerkte auf diese Worte der Wein-
reisende, denn er meinte, dass er zu jenem Aufschwunge durch seine
kaufmännische Gewandtheit mehr als irgend Einer die Veranlassung sei.
„Der alte Mann ist todt, aber neue und junge Kräfte werden nach ihm
mit allen Errungenschaften einer verbesserten und weitsichtigeren Land-
wirthschaft arbeiten und die Erträge steigern. Herr Horst zum Beispiel
ist gleich der Mann, der seine Stelle voll auszufüllen im Stande wäre.“

Dieses letztere Wort warf er nur so hin, um den Entschlüssen des
Chefs eine Richtung zu geben. Er hatte sich ganz in den Glauben hin-
eingeärbeitet, dieser Winzer Horst, der allerdings auf einer Weinbauschule
gewesen war, müsse der Mann sein, welcher seinen Ideen auf Erweiterung
des gesammten Geschäftsbetriebs entsprechen würde. Ein Mensch, der
so viel Erfolg bei allen Mädchen und Frauen hatte, musste ein unter-
nehmender und genialer Kerl sein; er sah ganz darnach aus, dass er

manchen alten Zopf in der Behandlung der Weinstöcke abschaffen un
dadurch die Erträge noch steigern werde. Denn Mtiller's Pläne und I^ee
gingen im Stillen dahin, dass er doch einmal Derjenige sein werde,

das ganze Geschäft übernehmen müsse, wenn er erst mit seinen

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grösserungsplänen durchgedrungen sei. Denn Herr Spurmann war oli:v
Söhne; seine einzige Erbin war seine schöne und geistreiche Tochter U11 ^
Desire Müller hoffte seit einiger Zeit mit einer gewissen Zuversicht ‘
die Hand der reizenden Marianne. Der Winzer Horst vvar der M ul111'
auf den er rechnete in der Verwirklichung seiner heimlichsten Hoffnung ei1

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Der Kellermeister machte ein ganz betretenes und sorgenvolles Gesr
als er so beiläufig den Namen Horst als Nachfolger des Todten geiia 11
hörte. Die Winzermädchen aber stiessen sich heimlich an und wechseh el
stille Blicke, als sei ihnen diese Aussicht gar keine unangenehme; d e° ’
wenn Horst die Oberaufsicht führte, rnusste für sie eine schöne Zeit a
brechen; sie vvussten, dass sie für ein paar verliebte Blicke oder ein still c
Kussstelldiche.in dann so viele Trauben heimlich bei Seite würden schafft' 1
können zur Zeit der Lese, als sie nur irgend begehrten und braucht*- 11
Sie blickten in aufgeregter Neugier auf den Chef, während Martha e' |V
plötzliche Gluth in's Antlitz trat, die eben so schnell einer jähen Blässe ' vlC*
Der Grosshändler wendete sich an Rüdig und sagte:

„Sie haben Recht, ich finde Keinen wieder wie den alten Mann ‘
und wenn wir ihn begraben, so geht ein gut Stiick praktischer 1111
individueller Erfahrung uns ab. Denn er kannte die Individualität j ecle

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Weinstocks; er behandelte ihn wie etwas Persönliches, nichts that er
im Allgemeinen oder über einen Leisten oder mit maschinenmässig e
Praktik; er hatte für jedes Gewächs seine eigene Behandlung und weil e
es rein persönlich nahm, erzielte er einen Saft, der auch im Fasse sein e
persönlichen Charakter entwickelte.“

Herr Spurmann antwortete nichts auf die Erwähnung Horst’s.

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Winzerinnen machten dumme, verblüftte Gesichter, der Reisende bes 3
die Spitzen seiner Handschuhe, nur Horst blickte ohne Verlegenheit 11,11
her und sagte:

„Einen Weinstock muss man wie ein Liebchen behandeln, utn
man sich bewirbt. Denn die Beeren sind wie lauter Küsse; soll’s v,t
geben, so muss rnan’s erst ein bischen weinen lassen, aber nicht zu V1
denn das wäre vvieder falsch. Und jedes Mädel hat seine eig'ne Art, 1
der es poussirt sein will; das ist wie Gutedel und Muskateller; die Ha uP
sache ist, dass man nicht zu früh mit der Breche beginnt, sondern im n
die richtige Zeit abpasst, in welcher die grünen Reben und die Ge!

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zu schiessen und zu reifen beginnen. Trauben, die man länger häng
lässt, werden süsser; das ist mit den Mädeln ebenso. Darum bin
immer für individuelle Behandlung gewesen.“

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Es lag etwas Frevelhaftes in dem leichtfertigen Tone, mit dem
Winzer Horst diese Worte sprach, indem er gleichzeitig den Kopf
Todten, der auf die Seite gesunken war, weil das Reisig wegrutsc
etwas höher bettete. Er fasste ihn an, als wär’s ein Puppenkopf, den
Mädchen zurecht setzt, und das starre Antlitz der Leiche behielt d p'
immer seinen gleichmässigen, verschwiegenen Ausdruck. Die Win zCl
mädchen schauten furchtsam dem Thun des Gesellen zu. Jede da cllt_
sich, welche „individuelle Behandlung“ sie wohl erfahren würde, wenn

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schöne Horst einmal ein Auge auf sie werfen sollte.

„Wir werden sehen!“ sprach Spurmann nachdenklich, indem e1’

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Frage in Erwägung zog, wem man die Stelle des alten Büttner anvertra u'
sollte. Das Wort des jungen Gesellen hatte ihm nicht missfallen, werl
es auch zur Unzeit gesprochen war; er hatte eine Empfindung,
Jemand, der einen so vertraulichen Vergleich über das Leben und ^
Behandlung des Weines brauchte, wohl auch eines vertraulichen Verh slt
nisses des Herzens zu den Stöcken fähig sein müsse. Und einen sold 111
Mann brauchte das Haus und die Handlung. Auf der anderen Seite aU’

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sprach auch etwas Unbestimmtes gegen Horst; es war etwas Räthse
an ihm und er stand im Rufe eines leichten Sinnes.

DerWeinherr betrachtete stillschweigend noch eine Weile das A n
des Todten, indem er seine Mütze abnahm und zwischen den Hä |n
hielt, Unwillkürlich folgten auch alle anderen Männer seinem B elsP

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Herr Desire Müller sah sich unangenehmer Weise genöthigt,
Cylinder gleichfalls abzusetzen, hielt ihn aber in der Höhe seiner
neben sich, unr dadurch eine gewisse gesellschaftliche Grenze

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