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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Blumenreich, Franziska: Conversion
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MODERNE KUNST.

326

Stelle stand Use vor der Abreise und sie wollte nun gern wissen, was er, der
Geliebte Anna’s, dazu sagte. Darum hatte sie das Buch mitgenommen. Robert,
immerhin ein wenig beschämt, ein so berühmtes Buch nicht zu kennen, behauptete,
derlei schreckliche Sachen brauche sie überhaupt nicht zu lesen. Aber Ilse be-
hauptete, die Geschichte sei ganz wahr, wenigstens nach ihrer Meinung, und
derlei müsse man lesen. Robert lachte sie einfach aus. Da wurde sie ganz
ärgerlich und aufgeregt. Auch sie würde sterben, wenn sie so verlassen würde,
wie die Anna Karenina. - Ihr Herz hätte ihr das gesagt, während sie das ergreifende
Buch las. Sie beharrte dabei, während Robert sich über sie lustig machte und
ein seltsame^ Feuer brach aus ihren Augen. Der junge Mann hatte sie so noch gar
nicht gesehen, wurde verwirrt und rief jetzt ungeduldig:

„Du liest zu viel Romane! Wie kannst Du nur auf solche Gedanken kommen,
Du hast ja gar keine Ahnung von solchen Dingen, Gott sei Dank!“

Sie verstummte einen AugenblKk.

„Wolltest Du Dich nicht damals versetzen lassen? Damals, als wir den
schönen Cotillon miteinander getanzt hatten. Die ganze Stadt wusste es, dass
Du fort wolltest!“

„Natürlich wollte ich mich versetzen lassen,“ gab er zu, „gerade darum,
weil Du mir so sehr gefielest und ich dachte, Du hättest keine Caution. Also
was blieb mir übrig? Man kann sich doch nicht gleich todtschiessen.“

Wieder blitzte es in ihren Augen, sie wollte etwas erwidern, da ereignete
sich ein unvorhergesehener Zwischenfall.

Sie mussten auf einmal umsteigen und Robert hatte doch sicher geglaubt,
sich in einem durchgehenden Zuge zu befinden, in dem sie bis Berlin bleiben
konnten. Das war sehr unangenehm!

Die Tante musste geweckt werden und brummte sehr. Auch Ilse war ver-
stimmt, weil Robert sich so geirrt hatte. Es giebt so viele durchgehende Züge,
es kann doch unmöglich schwer sein, die richtigen zu finden.

In aller Eile raffte man das Handgepäck zusammen und Ilse hing die be-
rühmte Tasche mit den Staatspapieren um. In wenigen Minuten war man um-
gesiedelt, von neuem installirt. Die Tante schlief wieder ein, und das junge Paar
lachte und schäkerte weiter. Robert hatte ein reichliches Trinkgeld gegeben
und man blieb wieder allein. Ilse schnallte ihre Tasche ab und legte sie in das
Netz. Sie naschten noch einmal von dem Obste und tranken ihren Rothwein aus.

Dazwischen erwachte die Tante wieder einmal und klagte über Unwohlsein.
Sie hatte Milzstechen und verlangte nach ihren Kamillentropfen. Robert griff
zuvorkommend nach der Reiseapotheke, aber Ilse fiel ihm in den Arm. Das
war ja die Geldtasche, die er für die Reiseapotheke hielt.

„Nein doch“, rief die Tante, „das ist ja meine Apotheke, gebt nur her, ich
muss Kamillentropfen nehmen.“

Die Tante behielt Recht. Was man in der Dämmerung des Wagens für
die Geldtasche gehalten hatte, war wirklich die Reiseapotheke. Die Tante ent-
nahm derselben ihre Kamillentropfen.

Wo aber war die Geldtasche?

Eine leichte, peinliche Unruhe, ein ängstliches Greifen und Suchen!

Wo war die Geldtasche? Man räumte beide Gepäcknetze ab - die Geld-
tasche war nicht da.

Noch einmal wurde alles umgekramt, aber die Geldtasche war nicht zu finden.

Man rief eben irgend eine kleine Station aus.

„Wir müssen hierbleiben, nachforschen“, sagte Robert.

Das junge Mädchen und die Tante gehorchten mechanisch. Sie waren völlig
betäubt. Alle drei stiegen aus, ohne noch recht zu wissen, warum. Sie standen
alle nur unter dem unbestimmten Eindruck, das Geld sei fort. Stumm und starr
verblieben sie da auf dem kleinen Perron, ohne recht zur Besinnung zu kommen.
Völlig iathlos, wie von Sinnen, standen sie da mit ihrem Gepäck. Was sollte
nun werden?

Robert war sich seiner Rolle als Mann bewusst. Er übernahm es, die beiden
Frauen zu trösten.

„Die Tasche wird ja zu finden sein“, sagte er ruhig, zuversichtlich.

„Ach Gott, nattirlich — sie kann ja nicht weg sein“, bestätigte nun Ilse in
erzwungen leichtem Tone.

Die Tante war noch immer nicht ganz munter und begriff knapp, worum
es sich handelte. Man hatte sie zum zweiten Male aus dem Schlafe gestört, sie,
die immer behauptete, auf der Eisenbahn nicht ein Auge schliessen zu können.
Nun, wie gesagt, wusste sie kaum, was vorging. Krampfhaft hielt sie den ein-
geschnallten Plaid fest, auf dem sie gelegen hatte. Es war auch noch ein ganz
leichter Regenmantel dabei. Die Tante hatte ihren Herbstpaletot an, denn sie
neigte zu Erkältungen. Indessen sprach das junge Paar so leichthin davon, dass
man die Geldtasche ja wiederfmden müsste. Es war nicht der mindeste Grund
zu ernster Besorgniss. Inzwischen war der Zug in der Nacht verschwunden und
der kleine Bahnhof lag in Stille und Dunkelheit. Im Hintergrunde lauerte nur
noch irgend . ein Hausknecht oder Gepäckträger, denn die Herrschaften würden
sich doch irgend wohin begeben. Aber das thaten die Herrschaften nicht. Sie
blieben hier. Alle drei begaben sich in den dürftigen Wärtesalon zweiter Classe
mit den spärlichen ledergepolsterten Bänken und der einen einsamen Gasflamme
über dem Buffet, wo einige verstaubte Liqueurflaschen, eine Büchse mit Thee
und eine andere mit Chocoladenplätzchen sich befanden.

Nebenan war der Warteraum dritter Classe, wo zwei Bauern mit ungeheuren,
vollgepackten Körben im Sitzen schliefen. In diesen verödeten Räumen überkam

Robert und Ilse zuerst das Gefühl des grässlichen Schreckens, des GrauenS v
dem Kommenden. Der junge Mann hatte die unbestimmte Vorstellung. eltt
Thorheit begangen zu haben, dass er nicht weiter, bis zu einer grösseren Sta
gefahren war.

Sie sahen einander. in die blassen verstörten Gesichter, und ohne sich aU
zusprechen, lasen sie das Entsetzen von den Mienen.

Aber auch diesmal machte sich Robert mannhaft zum Helden der Situati 0^
Kein Zweifel, damals, als umgestiegen wurde, hatte man die Geldtasche
Waggon liegen gelassen. Robert wusste zutällig die Nummer des Coupes, d ett^
er war ein oder das andere Mal ausgestiegen, um Blumen und Erfrischung

dies elU

dre'

zu holen. Nachdem er sich zu dem Stationschef begeben und mit
conferirt hatte, wurde eine Depesche abgeschickt, welche den von den
Reisenden verlassenen Zug auf einer grösseren Station einholen musste
war eine Kleinigkeit, in jenem Coupe nachzusuchen, dessen Nummer angeg e^ e
war. Dort lag die Tasche ja im Gepäcknetz.

Zwei grässlich lange Stunden vergingen in dem kleinen, kahlen Wartera ulU
Die Tante jammerte, Ilse sass da wic betäubt. Ein zweifelhafter Grogk und el

ebenso zweifelhafte Bouillon war herbeigeschafft worden. Aber die beiden D aine

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vermochten kaum etwas zu berühren. Robert, blass, mit zuckenden LipP'
aber mit erzwungener Ruhe, lief zwischen dem Wartesalon und dem bena 1
barten Vorstandszimmer in nervöser Unruhe hin und her.

Nach etwa zw’ei Stunden traf die Antwortdepesche ein:

Die Geldtasche w’ar in dem bezeichneten Coupe nicht gefunden worden-

Nun verlor auch Robert die Fassung. Da standen sie in dem veröd etel1
Winkel, mitten in der Nacht, in dem kleinen, kahlen Wartezimmer, gleichs* 1' 1
verlassen von aller Welt und wussten nicht, was beginnen.

Wo war das Celd geblieben, dies kostbare Geld, welches ihre ganze Zuk°
bedeutete?

Die Tante platzte jetzt heraus:

„Wenn die Papiere ganz und gar weg wären ! Werdet Ihr dann andere da^
bekommen?“

Es entstand eine kleine Pause. Denn das glaubte Robert in seinem os tel1
tativen Optimismus auch nicht, dass man andere Papiere für die verIorefl el
bekäme. Er glaubte nur sicher zu sein, dass kein Anderer die verloret 1® 1'
beniitzen konnte. Aber das war nur schwacher Trost. — Nun rief er:

„Sie können ja nicht w Teg sein, man wird sie wieder finden. Aber von h' e
aus geht es nicht. Wir müssen mit dem nächsten Zug weiter fahren nach Be^ 1

und dort die Polizei alarmiren
nach Berlin geht.“

Und er stürzte hinaus, wahrscheinlich
entronncn zu sein.

Soeben fuhr draussen ein Zug davon -

Ilse und die Tante warteten eine ganze lange Weile auf die Botsc
welche Robert bringen sollte. Er kam sehr lange nicht.

Die kleine Station war wieder in das tiefe Schw Teigen der Nacht versunk eI!
Nichts regte sich. Nur die Gasflamme knisterte ganz leise und von ganz
wohl von einem benachbarten Dorfe her vernahm man das Bellen eines Hund e"

Ich werde gleich fragen, wann der nächste

froh, den peinlichen Erörterung e
man hörte ihn noch pfeifen.

halt-

Wo blieb nur Robert?

Ilse erhob sich, um ihn zu suchen.

Sie durchschritt einen kleinen Corri

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wo sich die Gepäcksaufnahme befand. Hier war kein Mensch, jedoch in ei n

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kleinen, halbdunklen Nebenraume sah sie einen Mann mit einer Laterne,

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sich auf einer Bank hingestreckt hatte und im Begriff schien, einzuschlumni e ^
„O, bitte, sagen Sie mir doch, wann der nächste Zug nach Berlin g e' rt
rief Ilse dem Manne zu.

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„Der ist ja gerade fort“, knurrte der Weichensteller schlaftrunken, » ß
geht keiner bis morgen früh um 5 Uhr 7 Minuten. Der Herr ist grad’ nur
mitgekommen, er rannte, wie’s schon pfiff’ . . . .“ Und auf Ilsen's verdu
Miene beharrte er: „Nu freilich — der junge Herr, der mit Ihnen war!“

Das war ja dummes Geschwätz! Wie hätte das Robert thun können?

Sie trat hinaus auf den leeren, finsteren Perron, über welchen der H er

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wind hinstrich. Die einzige Gasflamme flackerte unruhig. Auch hier w-ar

Rob eI

nicht zu sehen. Sie hatte vermuthet, dass er da promenire, um der AufreS
Herr zu werden, die er ihr nicht verrathen wollte.

Doch er war wirklich nicht da. Sie lief durch die ldeine, dürftige G ar

crU n®

anlage und dann um das kleine Stationshaus herum.

Namen, dann Iauter und lauter. Er war nicht da.

Eine furchtbare Ahnung durchzuckte sie: Er war wirklich fort, mit
Zug nach Berlin, ohne ihr auch nur ein Wort zu hinterlassen.

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Leise rief sie sei n
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Allerdings hatte er keine Zeit gehabt, ein Billet zu lösen, aber das
man sicherlich auch nachträglich thun.

Mit Blitzesschnelle übersah sie das ganze Verhängniss.

Sie konnten nicht heirathen ohne Caution, und die Caution war fort. . j,

Schon damals hatte er sie fliehen wollen, weil sie angeblich die Ga u
nicht hatte.

Vielleicht hatte Robert es für das Beste gehalten, dieser schrecklichen ^
ein rasches Ende zu bereiten.

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Dann von Berlin aus würde er schreiben, .

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entschuldigen, berichten, dass die Papiere nicht zu finden.waren u.
büsste sie mit Recht für ihre schreckliche Unachtsamkeit, denn ihr vvar
Tasche, welche Robert in Uniform nicht gut tragen konnte, anvertraut.
 
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