Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

DOI Artikel:
Hardt, Ernst: Eine Reisebeschreibung: Nachtstück
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0448

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
MODERNE KUNST.

361

^ähnen lauerten, kauerten, — und ein unbewachter, unbeherrschter Augen-
^lick, — sie waren wieder da, sie besiegten mich, und die Qual begann
v°n Neuem — Wenn nur der Schlaf käme, ehe meine Kraft nachliess —
aber ich war garnicht müde — Aus Angst entschloss ich mich, ein Schlaf-
Pulver zu nehmen. — Es geschah zum ersten Male in meinem Leben —
^ch legte mich auf die Seite und betrachtete das rothe Kästchen auf meinem
bTachttisch — „Nur im dringendsten Nothfall“ hatte der Arzt gcsagt! —
ein tiefes Mysterium kam es mir vor —! Ich fasste nach der Schachtel,
eritnahm ihr eines der kleinen, weissen Packete und entfaltete es — Da
ein Häufchen weissen Pulvers — merkwürdig, das da sollte, konnte
äür geben, was ich so heiss ersehnte — den Schlaf? Wie es wohl
schmecken würde? — Kennen Sie es, wenn man zum ersten Male in
scinem Leben ein tüewehr abschiesst, dies bangende Gefühl? Halb Angst,
balb Neugier, gespannte Erwartung und die beunruhigende Frage: „Wäre
es nicht vielleicht besser, wenn du es nicht thätest?“ — Gerade so war
^ir zu Muth — Ich streute das Pulver zwischen meine zitternden Lippen
llr'd trank hastig Wasser danach! — — Es schmeckte genau wie Zucker
War also gar nicht so absonderlich, so mysteriös, wie ich gedacht hatte!
^ ch glaubte, der Apothekcr hätte vielleicht vergessen, diesem Quantum
^ücker das Schlafmittel beizumischcn und nahm daher sofort noch eines.
Dann legte ich mich auf den Rücken, löschte das Licht und wartete

Ich wurde nicht müde, aber allmählich überkam mich eine so merk-
Vvürdige Empfindung des Schwerseins, ich fiihlte, wie ich in die Kissen
Uedergedrtickt wurde —; meine Vorstellungen hatten keine Macht mehr
aber mich, Gedanken, die mich vorher stark beunruhigt hätten, dachte ich

Rtzt ohne die geringste Erregung-Ich lag ganz still auf dem Rücken

uüd allmählig wurde mir so entsetzlich langweilig zu Muth — Ich versuchte
rbe Blumen auf der Tapete zu zählen, ich kam bis an meinen Bettrand,
aUn hätte ich mich aufrichten müssen, um weiter zu zählen, ich fühlte,
bUss ich es nicht konnte und das ärgerte mich — Ich rechnete nach dem
^lächenraum die Anzahl der Blumen aus, welche durch die Bettwand ver-
^eckt werden mussten, addirte sie mit den gezählten und unternahm es,
aUf diese Weise die Zahl der Tapetenblumen meines Zimmers zu be-

rechnen-Plötzlich fühlte ich meinen Körper mit dem Bett sinken,

b'nabsinken, immer schneller — mit einem Ruck hielt es an, dann sank
6s weiter, hinab in bodenlose Tiefen, — die Bewegung war mir entsetzlich,
* ch wollte mich festhalten, griff mit den Händen in die Luft hinein, aber
es sank und sank mit zunehmender Geschwindigkeit, ich kauerte mich in
tl)einem Bett zusammen und drückte die Augen fest zu — Ich fühlte, ich
suh, wie die Tapetenblumen an mir vorbeisausten, zu tausenden und aber-

^Usenden, immer schneller fiel ich hinab — in's Unendliche-Da —

’üit einem Ruck hielt es an — ich lauschte auf — noch eine schwingende
hewegung — wirklich es stand. — Vorsichtig öffnete ich die Augen —
ich konnte nichts deutlich sehen, es war halbdunkel rundumher, nur
<bcht neben meinem Bett brannte eine I'ackel! Ich richtete meinen
’Vopf ein wenig in die Höhe und schaute um mich — Es war ein
^ächtiges Gewölbe — Bogengänge führten in's Dunkle hinein — die
Wt war feucht und kellerartig — Ich legte mich wieder zurück und
Schloss die Augen —- Meinetwegen auch hier, dachte ich — dann und
Vvünn war es mir, als schwankte mein Bett wieder — aber es war alles
Sänz ruhig. —

Plötzlich fühlte ich’s von oben auf mich herabsinken, wie mächtige
ünkelheiten — ich öffnete die Augen, es wurde hell in dem Gewölbe
llr>d von oben senkten sich unzählige kleine Gegenstände herab, in un-
abSehbarer Menge schwebten sie und neigten sich zu mir — Es waren

T

üüsende von ldeinen Händchen, wie ich sie so gerne hatte, kleine, weiche
^ände, die an unsichtbaren Armen in sanften Bewegungen auf und nieder
' v°gten — Ich schaute in die Hände hinauf und freute mich an ihnen —
a hörte ich plötzlich verschiedene kleine, feine Tönchen, die Hände hatten
Slcb auf einmal in kleine, ganz winzige Engel verwandelt. Sie schwebten
aüf weissen Flügeln umher und stimmten einen Gesang an. — Es klang
rührend, so weich, so unendlich süss — jetzt verstand ich auch die

\Xr

vorte — all die kleinen Engel sangen: „Wir haben Dich lieb!“ — Wie
''ünderbar wurde mir, mich von diesen Tausend und Abertausend kleinen
, esen geliebt zu wissen, das war ein so himmlisches Gefühl, selig schloss
a rneine Augen und horchte — ich brauchte die Engel ja nicht zu sehen,

ich hörte sie ja, sie sangen ja für mich, und sie sangen: „Wir haben
Dich lieb!“ —

Da schwoll der Ton langsam an, immer voller wurde er, wie in
heisser, mächtiger Leidenschaft strömte es auf mich ein. Wir haben, wir
haben Dich lieb —! Ich öffnete erschreckt die Augen, sechs Engel auf
mächtigen Schwingen flogen zu mir hinab, ihr Flügelschlag hallte in den
Gewölben wieder — sie kamen hinab und legten mich auf ihre Fltigel —
dann schwebten sie mit mir hinan, in das Gewölbe hinauf, jetzt warcn
wir unter der Dccke, ich kauerte mich zusammen. Wtirdcn sie mich
zerschellen? Es war ein entsetzlicher angsterftilltcr Augenblick, da barst
das Gewölbe tiber uns auseinander, tief blauer, Sonnenlicht durchströmtcr
Himmel prallte mir entgegen und es ging hinauf, hinauf — zum Himmel. —
Und höher ging es, immer höher, ich sah auf Berge und Thäler hinab

und da — wirklich, da in der Ferne blinkte das Meer auf-— Ein

tiefes Lustgefühl durchströmte mich, ich richtete mich empor und streckte
meine beiden Arme in heissem Verlangen zu jener tief blauen Gluth! —
Und schneller flogen meine Engel, mächtiger wurden die Bogen — Wir
sausten dem Meere entgegen — Es ruhte sich so weich auf den Engels-
flügeln, die Luft streifte so kühl meine brennenden Wangen, oh, ich hätte
jubeln können vor Lust —! Und nun kamen wir über das Meer! — Die

Engel senkten sich hinab, dicht über den Wogen flogen sie dahin — Ich

hing meinen Arm hinunter, die Wellen spülten über meine Hand, der

weisse Schaum war so warm und weich — wenn wir ein mal einer Welle

zu nahe kamen, so spritzte wohl das Wasser an einem Engelsfusse auf
und fiel dann in kleinen, blanken Tropfen auf meinen Körper zurück — —
Oh, es war eine solche Wonne zu schweben, zu fliegen, dicht über dem

Meere-In der Ferne lagen mächtige, lang hingestreckte Berge, aber

sie schienen zu schlafen, sie waren so ernst! — Meine Engel flogen nun
langsamer — sie breiteten ihre Schwingen weit aus und die Luft trug
uns in sanften, langen Bewegungen dahin — Ich schaute hinüber zu den
schweigsamen, einsamen Bergen, •— sie lagen da — still und gross — in
klaren, scharfen Linien schnitten ihre Rücken in den Himmel — sie waren
kahl — nackt — die ganze Natur dort lag eben da, — sie dachte nicht
mehr, — sie hatte ihren Gedanken zu Ende gedacht —! Ich schaute hin-
über, ich war in diesem unermesslichen Luftmeere, von Bergen zu Bergen,
der einzige Gegenstand, sonst war es leer — ein unendliches, lichtdurch-
glühtes schlafendes Luftmeer! — Wie mochte das da driiben wohl einmal
entstanden sein? —

Die Berge lagen wohl einmal, wie Berge ebcn liegen, neben einandcr,
durch einander, — und um einen tiefen, dunldenSee! — Und einmal kam
aus diesem See eine Stimme und verkündete, dass eine Vollendung auf-
steigen würde — Da wichen die Berge auseinander, in tiefer Ehrfurcht
wichen sie weit, weit zurück, bis an die Grenzen des Himmels, darüber
hinaus — — Und das Wasser aus den Tiefen floss ihnen nach und alles
wich zurück; die Berge legten sich am Horizonte nieder und warteten auf
die Vollendung, still und stumm! — Endlich wurden sie müde — sie
streckten sich lang aus, lang, weit legten sie sich auf die Ebene nieder
und warteten — Aber die Vollendung kam und kam nicht und sie fingen
an zu träumen und die Augen zu schliessen, und ganz allmählich schliefen
sie ein und das Licht auf ihnen schlief mit ein — und alles wurde miide
und ernst und legte sich von oben herab auf die Berge!-—■ —

Da liegen sie nun, diese mächtigen Riesen im verwitterten Licht —
ernst und grau, abgeklärt durch Jahrtausendc, — eingeschlafen, und ein-
geschlafen kurz vor dem Eintreten eines wunderbaren, grossen Ereignisses
— oder — waren sie es jetzt gar selbst — warcn sie selbst jene Voll-

endung, auf die sie so lange gewartet hatten?-

Und' zwischen ihnen schien es mir als blinkte eine Stadt auf -

Auf die Kniee sinke nieder,

Trägt Dein Glück Dich einmal hin,

Hebe leise Deine Augen,

Einen Blick wie im Gebet.

Nichts bist Du an dieser Stelle! —

Meine Engel flogen weiter — hin über das Meer — dunkellaubige
Wälder blickten zum Ilimmel auf, hohe Cypressen ragten, und wir schwebten

von Wipfel zu Wipfel in weiten Bogen über das Land-Ich pflückte

von den Cypressenspitzen Zweige ab und sammelte sie in meinem
Schoosse — Bald hoben wir uns in rasendem Fluge und eilten über eine

IX. 23. IV.
 
Annotationen