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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 133
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Marinetti, Filippo Tommaso: Die futuristische Literatur: technisches Manifest
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Windholz, J. L.: Die Wissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0195

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11 Man muß das „Ich“ in der Literatur zer-
stören, das heißt alle Psychologie. Die Menschen
sind vollkommen verblödet durch Bibliotheken und
Museen und einer schrecklichen Logik und Weis-
heit unterworfen: das interessiert nicht mehr. Man
muß sie also in der Literatur abschaffen. Man muß
sie durch die Materie ersetzen, deren Wesen man
mit der Intuition fassen muß, was Physiker und
Chemiker niemals erreichen werden. Man muß
die Objekte in Freiheit überraschen, ihre launen-
haften Beweger, das Atmen, die Empfindsamkeit
und den Instinkt der Metalle, der Hölzer, des Ge-
steins. Man muß die erschöpfte Psychologie der
Menschen durch die lyrische Eindringlichkeit der
Materie ersetzen.
Hütet Euch, der Materie menschliche Gefühle
zu unterschieben, erratet liebe ihre verschiedenen
unmittelbaren Anlässe, die kraftvolle Fähigkeit sich
zu zerstreuen, die zahllosen Moleküle und die Wir-
bel der Elektronen. Alan muß nicht Dramen der
vermenschlichten Materie geben. Die Festigkeit
einer Stahlplatte erweckt unsere Teilnahme durch
sich selbst, die unverständliche und übermensch-
liche Verbindung ihrer Moleküle und Elektronen,
die sich etwa dem Eindringen eines Shrapnells wi-
dersetzen. Von nun an ist die Hitze eines Stücks
Eisen oder Holz weit anregender als das Lachen
oder Weinen einer Frau.
Wir wollen in der Literatur das Leben eines
Motors geben, dieses neuen instinktiven Tieres,
dessen Hauptinstinkt wir kennen, wenn wir die In-
stinkte der einzelnen Kräfte erkannt haben, aus
denen er besteht.
Es gibt nichts interessanteres, für den futuristi-
schen Dichter wenigstens, als die Bewegung der
Klaviatur eines mechanischen Pianinos. Der Kine-
matograph bietet uns den Tanz eines Gegenstandes,
der sich teilt und sich ohne menschliche Hilfe wie-
der zusammensetzt. Er zeigt den Schwung eines
Tauchers, dessen Füße aus dem Wassen ragen und
heftig auf das Sprungbrett aufprallen. Er zeigt uns
Menschen, die zweihundert Kilometer in der Stunde
laufen. Lauter Bewegungen der Materie außer-
halb der Gesetze der Intelligenz als Produkt einer
bedeutsamen Substanz.
Außerdem muß man die Leichtigkeit (Flugfähig-
keit) und den Geruch (Verteilungfähigkeit) der
Gegenstände wiedergeben, was man bisher in der
Literatur versäumt hat. Man muß sich etwa be-
mühen, die Landschaft in Gerüchen anzugeben, die
em Hund wahrnimmt, die Motore hören und ihre
Reden wiedergeben.
Die Materie wurde immer von einem Ich beob-
achtet, das zerstreut ist, kalt, zu eingenommen von
sich und voller Vorurteile der Weisheit und
menschlicher Beseßcnheiten.
Der Mensch versucht mit seiner jungen Freude
oder mit seinem alten Schmerz die Materie zu be-
sudeln, die weder jung noch alt ist, die eine be-
wundernswerte Stetigkeit an Feuer, Begeisterung,
Bewegung und Zerstreuung besitzt. Die Materie ist
nicht froh noch traurig. Ihre Substanz besteht aus
Mut, Wille und absoluter Kraft. Sie gehört voll-
kommen dem erfinderischen Dichter, der sich von
dern traditionellen, schwerfälligen, engen, an den
Boden geketteten Syntax wird befreien können,
die weder Arme noch Flügel hat, denn sie wird nur
vom Verstand geleitet. Nur der unsyntaktische
Dichter, der sich der losgelösten Wörter bedient,
wird in die Substanz der Materie eindringen können
und die dumpfe Feindlichkeit, die sie von uns
trennt, zerstören.
Die lateinische Periode, die wir bisher gebrauch-
ten, war eine anspruchsvolle Geste, durch die eine
anmaßende und kurzsichtige Intelligenz das viel-
gestaltige und geheimnisvolle Leben der Materie
zu bändigen versuchte. Die lateinische Periode
war Totgeburt.

Die tiefe Intuition des Lebens verbindet Wort
an Wort nach der unlogischen Entstehung, sie gibt
die Hauptlinien einer intuitiven Psychologie der
Materie. Sie entstand in meinem Geiste hoch
oben im Aeroplan. Als ich die Objekte von diesem
neuen Gesichtspunkte betrachtete, nicht von vorn
oder von hinten, sondern von oben, also verkürzt,
da konnte ich die alten Fesseln der Logik und das
Blei der alten Begriffe zerstören.
Die Ihr mich geliebt habt und mir bis jetzt ge-
folgt seid, futuristische Dichter, Ihr wäret wie ich
begeisterte Bilderkonstrukteure und kühne Ana-
logienforscher. Aber das engmaschige Netz der
Metaphern ist beschwert durch die bleierne Logik.
Ich rate Euch, es zu erleichtern, damit Eure Geste
in das Unendliche es fortschleudert: breitet es
auf dem weiten Ozean aus.
Zusammen werden wir etwas erfinden, was ich
drahtlose Vorstellung nenne. Einst werden wir zu
einer noch wesenseinheitlicheren Kunst gelangen,
wenn wir erst die ersten Ausdrücke unser Analo-
gien zu unterdrücken wagen und nur eine un-
unterbrochene Folge von zweiten Ausdrücken ge-
ben. Wir müssen darauf verzichten, verstanden
zu werden. Verstanden zu werden ist überflüssig.
Wir haben auch schon darauf verzichtet, als wir
Fragmente futuristischer Sensibilität mit Hilfe der
traditionellen Verstandessyntax ausdrückten.
Die Syntax war eine Art abstrakte Geheim-
schrift, die dem Dichter dazu diente, die Menge
über die Farben, die Musik, Plastik und Architek-
tur der Welt zu belehren.
Die Syntax war eine Art Unterhändler und
langweiliger Führer. Man muß diesen Zwischen-
träger beseitigen, damit die Literatur unmittelbar
in das Weltall gelangt und einen Körper mit ihm
bildet.
Unbestreitbar unterscheidet sich mein Werk
einfach von den übrigen durch die große Wucht
der Analogien. Sein erstaunlicher Bilderreichtum
wirkt beinahe wie die Unordnung der logischen
Interpunktion. Es beginnt mit dem ersten futu-
ristischen Manifest, die Synthese eines 100 PS.
mit tollster Geschwindigkeit.
Warum soll man sich noch der verzweifelt
dahinrasenden Räder bedienen, jetzt, da man sich
vom Boden trennen kann! Befreiung des Wortes,
schweifende Flügel der Einbildung, analogische
Synthese: die Erde, mit einem einzigen Blick
umfaßt, mit einem einzigen, wesentlichen Worte
gestaltet.
Man schreit: „Eure Literatur wird nicht schön
sein! Wir werden nicht mehr eine Wortsym-
phonie haben mit den harmonischen Schwankun-
gen und beruhigenden Kadenzen.“ Natürlich.
Ein Glück. Im Gegenteil, wir werden alle bruta-
len Töne gebrauchen, alle ausdrucksvollen Schreie
des heftigen Lebens, das uns umkreist.
Gebrauchen wir das „Häßliche“ in der Litera-
tur und töten wir überall die Feierlichkeit. Nehmt
doch nicht die Allüren von Hohepriestern an, wenn
Ihr mir zuhört. . Man muß täglich den „Altar der
Kunst“ anspeien. Wir betreten die unbegrenzten
Gebiete der freien Intuition. Nach dem freien
Vers auch das freie Wort.
Es gibt nichts Absolutes noch Systematisches.
Das Genie hat heftige Stürme und schlammige
Ströme. Es erfordert manchmal analytische und
erklärende Langsamkeiten. Man kann seine Sen-
sibilität nicht plötzlich erneuern. Die toten Zellen
sind mit den lebenden vermischt. Die Kunst be-
deutet das Bedürfnis sich zu zerstören und sich
zu zerstreuen, indem sie, eine riesige Gießkanne,
das Land mit Heldentum überschwemmt. \Die Mi-
kroben, vergeßt es nicht, sind notwendig für das
Blut und für die Kunst, für die Verlängerung des
Waldes unserer Adern, der sich außerhalb unse-

res Körpers ins Unendliche des Raumes und der
Zeit ausdehnt.
Futuristische Dichter! Ich habe Euch den Haß
gegen die Bibliotheken und Museen gelehrt; nur
um Euch auf den Haß gegen die Intelligenz vorzu-
bereiten, indem ich die göttliche Intuition er-
weckte, das charakteristische Geschenk der la-
teinischen Rassen. Durch die Intuition werden
wir den scheinbar unverrückbaren Widerstand
brechen, den unser menschliches Fleisch vom Me-
tall der Motore trennt.
Nach der Herrschaft der Lebenden beginnt das
Reich der Maschinen. Durch die Bekanntschaft
und Freundschaft der Materie, von der die Gelehr-
ten nur die physikalisch-chemischen Beziehungen
kennen, bereiten wir die Schöpfung des mecha-
nischen Menschen mit Ersatzteilen vor. Wir wer-
den ihn vom Todesgedanken befreien und daher
auch vom Tode, dieser höchsten Definition logi-
scher Intelligenz.
Autorisierte Übersetzung von Jean-Jacques

Die Wissenschaft
Alles, was geschieht, ist eindeutig und hat
nicht seinesgleichen, und es geschieht nicht zum
anderen Male und geschieht niemals wieder.
Und dennoch gleichet ein Geschehen dem an-
deren, wie ein rechter Schuh dem linken oder wie
ein Hammel allen übrigen Hammeln der Hammel-
herde, oder wie ein Engländer allen anderen Eng-
ländern, die wenigen ausgenommen, welche einen
Vollbart tragen.
Das wissen die Historiker und sie arbeiten mit
Analogien und Vergleichen, um zu erklären und
zu erläutern und uns die Dinge näher zu bringen.
Vergleiche aber sind verhexte und verzauberte
Wesen. Alan glaubt sie zu fassen und sie zer-
flattern in Luft.
So wahr aber in diesem Sommer sich die Ma-
turnologie erwiesen hat als die Wissenschaft von
den Dingen, die jenseits aller menschlichen Erfah-
rung liegen, so wahr ist die Statistik die realste
aller Wissenschaften, denn sie zählt die Dinge und
macht ein Strichelchen neben dem andern, und wir
verdanken ihr nicht nur die vergnüglichsten son-
dern auch die sichersten Erkenntnisse
Da hat nun der Direktor des Wilmersdorf er
Statistischen Amtes, Dr. Dreydorff, eine ebenso
verdienstliche wie aufschlußreiche Untersuchung
angestellt und es zeigte sich, daß fast jeder zwan-
zigste Mensch, der in Wilmersdorf über die
Straße läuft, ein Oesterreicher ist. So die Wis-
senschaft.
Was aber die Wissenschaft nicht sagt: dieser
Zwanzigste ist immer ein Mensch, der Musik
macht oder Theater macht oder Literatur oder
wenigstens Zeitung macht oder mindestens ein
Damenschneider ist. — Kurzum, dieser zwanzigste
Wilmersdorfer ist immer ein Mensch, der etwas
von dem großen und schönen und notwendigen
Dinge macht, das man Kultur nennt.
Rom verschlang Athen und Athen gab ihm
seine Rhethoren und Philosophen und verschlang
Rom. Und Rom verschlang den Orient und der
Orient gab Rom den Mithraskult und drückte ihm
die Kehle zu.
Ich weiß, Berlin ist nicht Rom und Wien ist
kein Athen u^d ein wiener Operettenkomponist
kein griechischer Peripathetiker; das weiß ich
alles. Die Sach stimmt nicht — und dennoch
stimmt die Sach.
J. L. Windholz

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