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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 134/135
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Ehrenstein, Albert: Anmerkungen
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Döblin, Alfred: Gabriel Schillings: Flucht an die Oeffentlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0207

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klaftern lassen. Nach seinem Werk ge-
fragt, wird „er“ am jüngsten Tag mit seiner
spitzen, dämlich dünnen Kritikastratenstimme säu-
seln müssen: „Ich war etlicher Nachtigallen Ein-
leitefrouwe.“
Womit eine Einleitefrau im Kabinett beschäf-
tigt ist? Sie wischt ab, sie leitet ein — nämlich
Wasser — man hört dies Wasser diezen und wie
sie sich freut, wenn einer zusammendrängt. Aber
ihr hättet so eine gute, alte Abortfrau früher ken-
nen sollen, als sie noch nicht pseudonym, sondern
etwa unter dem ehrlichen Mädchennamen Kitty
lebte. Ach, reizendes Kittychen, das waren herr-
liche Zeiten. Sie war soooo kitzlich. („Deine
Weste, fahler Maler, küßt mich sehr.“)
lieh bin nicht Agrarier genug, das dumpfe Zu-
feldeziehen eines Ochsen würdigen zu können.
Noch ferner liegt mir ein Rarissimum: Pubertäts-
lyrik einer Einleitefrau.
Als Heyrn starb, begann ein Hiller auf seine
Art zu trauern. Dieser wahrheitsliebende Grup-
penarangeur, dem das „subtile Nachrechnen von
Förderungen einigermaßen gegen den Strich geht“,
fragte bei dem Verfasser eines Heymnachrufs an,
warum er, Ku. Hiller, darin nicht als Propagator
Heyms genannt worden sei. Da ist das subtile
Nachrechnen von Förderungen unter den Strich
gegangen.
Erwähnt werden wollen! Daß es eine wahn-
sinnige Leichenschändung ist, über den Leib eines
Toten in ein Blatt eindringen zu wollen, sollte so-
gar ein literaturpolitischer Maulwurf zugeben.
Wenn ein Manager und Impresario mit Lite-
raturallüren eine Besprechungsgenossenschaft
gründet, kann dafür nicht seine Beschränktheit
haften, sondern die Lässigkeit jener, die den Maul-
werksburschen nicht schon längst ins Kommerzi-
elle abgeschoben haben.
Wenn eine Fliege Pollak bei der andern liest,
fallen seit jeher beide in mein Tintenfaß, und ich
habe nur mehr den Duft ihrer Verwesung zu re-
gistrieren.
Daß die Giftschlangen den Menschen Gehässig-
keit vorwerfen, ist ein starkes Stück!
Ein zänkischer Stänkerer, mit einem totgebo-
renen Juristendeutsch vorbestraft, ist noch kein
Polemiker. Sondern eine „Intellektualkröte“.
Goethe erwartet einen Angriff der Ku. Hiller.
Der alte Frankfurter hatte nämlich die Frechheit,
von „Adler und Taube“ zu reden, statt anzu-
heben: „Ein Kontorsjüngel hob die Flegel nach
Raub aus“.
Wer das Krankheitsbild der Hysterikerin kennt,
weiß, daß sie auf meine sachgemäße Behandlung
mit lügnerischen Verdrehungen, Denunziationen,
Verleumdungen und Halluzinationen antworten
muß.

Gabriel Schillings
Flucht an die Oeffentlichkeif
Horaz Menschenkenner, Bücherkenner; siehe:
„Poem ruhe sanft sieben Jahre im Schreibtisch.“
Schilling angeblich erst sechs; fehlt aber nicht nur
eins.
Schlimm. Wozu? Hauptmann-Jubiläum schon
genug Oeffentlichkeif; Lauchstädt vielleicht erlaubt.
— so Goethe, Weihe, oh rühre, rühre nicht daran;
bekannter Drehrum. Eruptive Ausrufe eines belei-
digten, bauchgetretenen Hauptmannfreundes: „Schil-
ling“ platt, imitiert, charakterlos, „Stümmung“ und
weiter mischt. Nee, mach ich nicht mit. Is mir zu
dumm, würklich, nassiv dumm; und noch in fünf
Akten. Is keine Kritik? Macht nüscht; is aber
richtig. Commenqons, fangen wir los.
Die Sache bei Hauptmann bereits bekannt; „At-
lantis“ Roman im schlechtest möglichen Deutsch,
Rekord in Büchstil alten Genres, unreife Angelegen-
heit trotz Jubiläum. Nee, mein Herr, fünfzig Jahre
entschuldigen keinen schlechten Satzbau; da kön-
nen Sie bis zweihundert alt werden for mir. Cete-
rum feiner Stoff, solides Milieu, ab und zu ein
Menscheneingeweide; mißlungen durch Lyrik,
„Stümmung“, wie man zu sagen pflegt: Einer hat
genug — egal wovon - jedenfalls totalemente total
genug, Flucht, sagen wir Amerika, oder mehr dicht
dran, so etwa Ostsee, Krisis da, dann im Roman
der tragische Ausgang einer Verlobung, im Drama
Bühnenklamauk, Sturm, vorbeigeratenes Fieber-
delirium, vergnügter Sprung ins Wasser zu allsei-
tiger Befriedigung. Man hat immer von irgendwas
genug, bis da hinauf, kann es Hauptmann nach-
fühlen. Man möchte sich das Leben nehmen und
zur Verlobung greifen. Wen geht’s was an? Mir
nich. Is mir schon janz andres passiert; zum Bei-
spiel neulich falsche Garderobenmarke.
Schilling ne solide gut eingeführte deutsche
Marke. Wie heißt doch der Kerl beim alten Goethe?
Nicht Kleopatra, so ähnlich — Orestes. Gehetzt
— egal wovon — totalemente Flucht, wegen Stil-
gefühls nicht Amerika, sondern Tempel, gutgera-
tenes Delirium, Heilung ohne Badeeinrichtung und
Kaltwasserheizung. Na also, bemerkt der Ge-
nießer, es jeht auch so.
Wo liegt nun der Hund begraben? Bei „Schil-
ling“ endloses GequaSsele, allgemeine Art, von
einer Witz- und Gedankenlosigkeit — unüber-
treffbar. Er will Lyrik, Erhebung, Geist, direkt
Jeist, und es jeht nich, von wegen er kann nich;
er konnte das noch nie: warum also mit einmal?
Dabei geht Charakteristik flöten, die er kann: die
einzige Tragödie in der Geschichte. Demgemäß
und zufolge: da liegt der Hund begraben.
Thema. Einer hat bis da genug, weil ihn zwei
Weiber wirklich weiblichen Geschlechts um die
Ecke zu lieben willens und bereit sind. Der unge-
heure, atemhemmende Schatten Strindbergs fällt
hierher. Zu schwerer Konkurrenz: mit dummem
Gepappel kommt man um die Sache bei uns, bei
uns nicht herum. Der Schreibtisch, Schatulle zahm,
sechs Jahre, sechzig Jahre, sechshundert Jahre;
wir grinsen, suchen richtige Garderobenmarke.
Diese beide Weiber kennen wir schon schon;
aber, wie man zu sagen pflegt: „Aujust, wie haben
se dir jebufft“. Das Zentrum des Stückes: ist er
ein Schlappschwanz oder ist er kein Schlapp-
schwanz? Er ist kein Schlappschwanz, sondern
ein Ladenhüter von Wandischirm, hinter dem
Hauptmann hörbar monologisch sich produziert
Ich habe kein Mitleid mit Wandschirmen, selbst

wenn sie am „Mööre“ wandeln. Und Hauptmann
ipse: was und wen geht er was an — wegen das
bischen Geburtstag? Bekenntnisse an sich, dumm;
dies Bekenntnis wulgär, peinlich; Vortrag salopp,
ölig, transusig; Atrappe von „Möör“, Kirchhof
machen den Kohl ooeb nicht fett.
Schlimme schwache Stunde des verehrten Mei-
sters. Eine deutsche Größe; Recht auf solche
Stunden sei ihm unbestritten. Kanns sich leisten.
Schwamm drüber.
Das langweilige Stück in trostlosem Spiel
Theaterzettel verloren, sonst wehe den schlimmen
Dilettanten da irn Lessingtheater. Schilling, Pro-
fessor, Gemahlin Schilling — nicht gedacht soll
ihrer werden — Theaterzettel verloren. Er Imi-
tation Bassermann, sie Imitation Else Lehmann;
der Professor keine Imitation: so was weder vor-
noch nachahmbar. Lessingtheater, man höre, Les-
singtheater.
Schöne Bescherung für Hauptmann.
Alfred Döblin
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Die Memoiren der Frau Marianne Rollberg /
bekannt durch den Prozeß mit dem Polizeikom-
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Das Leben im Dunkeln / Roman
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München / Verlag Georg Müller ?
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Leipzig / Verlag Dr. Sally Rabinowitz
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Paris I La Nouvelle Revue Francaise
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Parisiennes / Dessins ;
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Leipzig 1912 I Ernst Rowohlt Verlag
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Berlin-Wilmersdorf / A. R. Meyer Verlag

Verantwortlich für die Schriftleitung:
Herwarth Walden / Berlin W 9

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