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Heidelberger Zeitung — 1861 (Januar bis Juni)

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Juni
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Doiinerstag, 27. Zuni

j-f Ueber Wehrsystem und Bolks-
bewaffuuna

Jn dem m Nr. 120 uns. Bl. enthalttnen
Aussatz „zur Polrtik der Mittelstaaten" ist i,n-
tcr Andern auch die Jkee eincr allgeineiiieii
Volkdbewaffniinq anqereqt und zu kem Ende
dic Amiabme des Schweizerischen WchrsNstcins
empiohlen. Dicse ohne weitere Brgrlindung
hinqestcllte BkhauptuiiK bedars jcdoch eincr
nähercn Ausführung und theilweise ciner Be-
leuchtung. Was nämlich die Wchrkrast dcr
Schwciz anbelangt, so ist dicse vorzugsweise,
ja fast ansschließlich znr Verlheidignng dicses
Gcbirgslanks bcstiinmt unk ken politischeu
und localen Vcrhältniffen dcffelben angeincffcn.
Die Schwcizcrische Armce ist lekiglich aus
Milizen oker ciner Art Landwchr gebilkck, uud
bckarf zu „nserer inodcrneu Kriegssührung
noch ker praktischcn Probe. Wir zweiseln zwar
kciiien Auaenblick, kaß diese Landwehr wider
eiuen einfaUenkeu Feinv vollkvminen ihre Pflicht
thun unk ihren cinhcimiichen Boken mit ker-
sclbcn Tapferkcit vcrtheidigen wcrde, wic in
den neungigcr Zahren gegen das französische
Hccr. (Jn kieser Zeit lag nümlich dcr lctztc
Kricgsfall in weiterer Ansdehnung für kie
Schwciz vor.) Allcin wir tragen billiger
Weisc große Bckenken, ob es derselbcn gelin-
gcn dürfte, ein seindliches Heer von einer Be-
sctzung dcr äußern, größern und volkrcichern
Kanione »nd damit zugleich ker bedeiittndern
Skädtc abznhalten und sich in ciner offencn
Felkschlacht crfolgreich mit diesem zu nieffcn.
Was zur Zeit ker inittelaltcrlichen Kriegsfüh
rung, kie fast ausschließlich in einem berbrn
Dreinschlagen bestank, möglich war, dürstc
bci unserer jctzigen, völlig verändcrten Kriegs-
kunst keinensalls mehr von demselben Ersolge
bcgleitet scin. Dieselbe hat in ncuerer nnb
neuester Zeit solche ricsenhaste Fortschrikte ge-
macht und ist so zur förmlichen Wiffenschaft
gewordcn, daß zu ihrem völligen Verständniffe
und zu ihrer erfolgreichen prackischcn Anwen-
dung das volle hingebenbe Stndium eincs
Mannes eben so nöthig ist, wie in eincm je-
den andcrn Lcbensberilfc. Für alle Fälle gilt
kiese Bchauptung unzweifclhaft von ken Os-
flcieren. Abrr sclbst was den gcwöhnlichen
Solbaten besonkers in gewiffcn Spccialwaffen-
gattungen betrifft, bie eincn höhern Grad von
lcchnischer Fcrtigkcit uud Gewandtheit erfor-
dern, so wirv derselbe diese» bem jctzigcn Stand
der Kriegskunke aiigemkffcnen Grad der mili-
tärischen Ausbilkung in keiner anderen Weise
sich aneigncn, als durch einen längeren, eif-
rigen Dienst im stehenden Hcere. Dieses

Letzterc also kann, bei unserer jetzigen Kriegs-
fnhrung und so langc alle andern Staatcn
ein svlches, theilweise in »nmerisch äußerst
starkcm Bestande befltzen, in kciner Weise ent-
bchrt wcrkcn. Mit welcher Aussicht auf Er-
folg wollte man z. B. der so zahlreichen und
trcfflich eingeübtcli französtschcn Arinec mit
einein bloßen Vvlksheere cntgcgentreten! Das
häufig angcwcndete Beispiel von 18l3 paßt
nur unvvllkommen. Damals bestand nämlich
dic Napolconische Armee, weil die ältekn gc-
dienten Soldatcn maffcnhaft in Spanien und
Rußland geblicben waren, meistcns aus neu-
aiisgchobenc» jüngern, nur iiolhkürftig einge-
übten Krieger». Und es steht schr i» Frage,
ob es der prcußischen Lankwchr allcin, vhne
dcn Stamm dcr aus frühercn Krisen noch vor-
hankencn Armee, an den sie sich anschloß, ge-
lungen wäre, jcnc Neiiliuge so glorreich zu
besicgcn! Sogenaniite Volkskriege haben über-
hanpt, wie uns dic Geschichte der neucren
Zeit lchrt, eine dieselben characterisirende Ei-
genheit darin gehabt, kaß es ihnen an einzel-
nen Zügen vvn aufopfcrungsfähiger Hinge-
bung und treuer Vaterlandsliebe wohl nicht
fehlte, daß sie aber eincn cnklichen glücklichen
Erfolg gcwöhnlich nur dann hatten, wenn be-
sonkers glückliche, oft uiivorhcrgesehene Zufälle
eintraten, wie die Jntcrvention von Scikc»
einer befreundeten Macht oder kgl. (sv z. B.
von Englanv im spanischen, von Frankrcich,
England und Rußland i,n griechischen Be-
jrciungskampfe, von Frankreich im belgischen
und im neuestcn italienischen Unabhängigkcits-
kampfe u. s. w.). Außcrtem hattcn solche
Bolkskriege gegrn einen wohlkisciplinirtcn,
encrgievollcn unk gutgeführten Feind auf die
Daucr keincn Halt und nahmcn schließlich mei-
stcns einen nnglücklichcn Ausgaug. (Man
denke nur an Polen und das uns so nahe be-
rührende, von der Diplomatie seinerzcit ver-
laffeue, auf sich angewiesene Schleswig-Hol-
stein.) Allcs in Allem gesagt, in unserer hen-
tigen Kriegskunst, wo mittelst großer, offener
Felkschlachten und ctwa noch eines wohlange-
brachten kunstvollen Befestigungssystems der
schließliche Erfolg erzielt wird, gibt nicht mehr
die größcre Tapferkeit, sondern der höhere
Grad der technischen Fertigkeit, der erlangten
Taktik und Strategie den endlichcn Aus-
schlag. Nur noch in der Form des sogen.
kleinen oder Guerillakrieges läßt sich bei un-
sern heutigen Verhältniffen, besonders in gc-
birgigen Gegenden ein sogen. Volkskrieg mit
einigem Erfolge führen.

Eine wirklich kriegstüchtigc Volksbe-


18VL.

waffnung läßt ffch hcut zn Tage ncben dem
stehenden Heere durchaus nur in dcm Mnstcr
der prcußischen Landwehr denken, so zwar,
daß dercn tcchnischc Fertigkeit durch einen vor«
ausgcgangenen längern okcr kürzern Dienst im
stehencen Heere bcdingt ist. AUgemeine Wehr-
pflicht versteht sich von selbst.

Zn der Annahme des preußischcn Militär-
spstcms für ganz Dcutschland liegt daher un-
seres Erachtens die bestc Form für einc solche
Volksbewaffiiung, wclche zugleich den Anfor-
derungen dcr neuern, complicirteii Kriegskuust
entspricht. — Ganz zu vcrwerfen sind sogen.
Bürgerwehren und diesen ähnliche Einrichtun-
gen, die auf eine bloße Carricalur der Linie
hinausgehen unv höchstens für den innern
Dicnst gecignct sind, in eincm ernstcn Kaiupfe
aber voraussichtlich vhne allen Erfvlg, bloß
ein Matcrial für Kanonenfutter abgcbeu wür-
den. Dagegen ist unter alleu Uinftänden ei-
ner mililärischen Ucbung der Zugcnk, wie die-
ses in der Schwciz schon laugc ublich ist, un-
bedingt Pas Wort zu reden. Durch crnstes,
fortgcsetzteS Turncn und Ercrciren wird der
Knabc und Züngling »icht nur seincn Körper
stählen und abhärten, sonkern namcntlich auch
jeiien hohcn Grad der iiidividueUcn Ausbitdung
deS einzelnen Mannes am dcslc» und leichte-
sten erreichen, die wir an ken französischen
Solkatcn im letzlcn italienischen Kricge ken-
nen gelernt haben. Zminer aber wird diese
also erlaugte militärlsche Uebung erst durch
den -Dienst im Heere iclbst, bc>onders was
kas Zusammenwirken in größcrem Maaße an-
belangt, ihre lctzte Vollcnvuiig erhalttii. Ju
kiesem, in kurzcn Grunkzügcn also erörtertc»
Wehrspstemc sind, glauben wir, Angesichls cineS
unscrein Vaterlandc elwa drohenden Kiieges kic
Vortheile des stchcnden Heeres und der Volks-
bkwaff»u,ig am besten mit einander vcrbunden.

Anmerk. d. Red. Das schweizerische Hecr hat aller-
dtngs dte bctnahe einztge Bestimmung der VaterlandS-
verlhetdtgunH und wird, wie eS besteht, geschützt durch ctn
günsttges Lerratn, sein Land gcgen einen jclbst übermäch-
tigen Fetnd längere Zett verthetdtgen können. Wir stim-
men daher mtt dem Berfaffer vorstchcnden ArtikclS überetn,
-daß daS schwktzertsche Wehrsystem für unsere Verhättniffe
ntcht ganz paffend tst, da wtr, wenn auch noch wett ent-
fernt, trgend aggressiv vorzuschrciten — doch in dte Lage
kommen tönnen, unser Schwert bet curopäischen Angelegen-
hetten in dte Wagschale zu legen. — Dcßwcgcn wäre etne
allgemcine Volksbewaffnung tinmerhin wünschenSwerth —
» nur müßte etn verhällntßmäßig größerer Präsenzstand für
dte Linte festgehalten werdcn unddie UcbungSzeit berLandwehr
für längere Zeit andauern — alS solche in der Schwetz
bestimml tst. — Dte tkchnisch-strategische AuSbildung wtrd
unser Heer sich dsch erst anetgnen, wcnn cs etntgcmal tm
tüchtigen Feuer gestanden und verschiedene Schlachten durch-
gekämpft hat.

Iurch Nacht zum Licht.

Lebensbild von Joseph Rank.

(Fortsetzung).

Wenn dann Svnntags die ficißigen Arme der Leute
ruhten, Höfe und Hallen gereivigt waren, Eltern und
Kinder in reinlichen Klcidern crschicnen und familien-
weise des Morgens die Kirche, dcs NachmittagS
öffcntlichc Spaziergänge besuchten: da lcrnte unscr
Knabe klar gcnug crkenncn, daß auch dicscn Men-
schen ein gutes Maß von Giück nicht fehlc und daß
am Ende er selbst, aus befferen Verhältniffen ge-
riffen und verwaist, wte cr war, der Bedauerns-
wertheste von allen sei.

Eines Tagcs — es war ein Fciertag in der Wvche
— entwickelte Eduard'S Pflcgcrin cine besondere Ge-
schästigkciti sie suchte ihren bcstcn Sonntagsstaat
hervor, sorgte, daß das Mittagcffen, welches sonst
Punkt zwölf Uhr ausgetragen wurde, schon eine halbe
Stunde frühcr auf dem Tische stand, nnd meldete
währcnd des Effcns, daß sic gcsonnen sei, mit Edu-
ard, wcnn cr anders mit ihr gehen wollc, einen
größeren Spaziergang zu machcn.

„Wir kommm Beide so wenig sort und sollten

doch Gottes schönen Tag genießen", sagte sie. „Was
halten Sie davon mein Ktnd?"

Eduard gab, ohne besonders vergnügt zu sein,
seine Znstimmung, rüstete stch arglos zu dcr Wan-
derung und übcrließ es der altcn Pflegerin ganz,
in «elcher Richtung sie dmSpaziergang ausführen
wolle.

Erst als er nach kurzcr Wanderung merkte, daß
die Pflegerin, mit Spannung und Neugierdc die
Richtung nach der innercn Stadt, dem Mittel-
punkt dcs Glanzes und Reichthums einschlug, wo
auch Eduard's Eltcrn einst zu leben in der Lage
waren, da wurde er unruhig und fragte bctroffm:
wohin sic gchm wollten?

Die Pflcgerin beruhigte ihn, sagte: sie habe nur
cin kurzeS Geschäft in der Adlergaffe, sie würden
dann ohne Vcrzug das Freie suchen und auf das
Land nach LudwigShagen wandern!

Jn der Adlergaffe aber war es, wo die Eltern
Eduard's einstcns wohnten, und Ludwigshagm war
es, wo daS chcmalige Landhaus sciner Eltern stand;
statt sich durch dic Auskunft der Pflcgerin bcruhigt
zu fühlm, licftn jetzt Schauer der Sorge und des
Kummers durch ftin Herz.

Doch erwiderte er nichts und folgte schweigsam
sciner Führerin.

Je weitcr sie aus den ärmeren Thcilen dcr Vor-
stadt sich cntfcrnten, je mehr sie sich dem reichm
Theil der Hauptstadt nahcrtm, drsto bclcbterwur-
dm die Straßen, dcsto frohcr sahen die Mcnschen
aus und desto schöncr waren ihre Anzüge.

Eduard war ftit Monatm diesen Scmen des
Tumultcs und Glanzes cntrückt gewcsen, sie über-
raschten deshalb sein cntwöhntcS Auge mächtig, er
sah hier wieder Kinder im schönstcn Staat und sorg-
los lächclnd sich das Treiben dcr Welt betrachtm.

Die Erinnerung an seinc bcsscrcn Tagc crwachte
schmerzlich; so hatte einst auch scine Jugend begon-
nen — und jetzt? und jetzt? . .

So reinlich auch scin gcgcnwärtiger Anzug gc°
haltcn war: Eduard hätte nie gcglaubt, daß cr fich
den reichen Kindern gcgcnüber gar so Lrmlich aus-
nchmcn könne! Er war froh, daß unter den vor-
bcikommenden Kindcrn kcin ehemaliger Spiclgmoffe
war, und als er spätcr eine in scinem Eltcrnhause
oft gcsehenc Familie an sich vorübcrgehen sah, dankte
cr Gott, daß sie ihn nicht crkannte »der zu erkennrn
schien.
 
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