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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [1]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0105

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MODERNE KUNST.

wieder he-rauszukommen, saugt ihr der feige Gauner in aller Gemüthsruhe
mit seinem langen Rüssel das Blut aus. Denn, Otti, die Canaille hat
einen Rüssel!“

Sie stiess es mit verachtungsvoller Empörung heraus und kniff Otti
heftig in den Arm.

Die junge Frau schrie überrascht auf.

„Schab' den Rüssel? Du meinst Brechtling?“

Leo nickte.

,,Ja, Brechtling! Schab' den Rüssel — warum nannten wir ihn als
Kinder so? Weil er seinen langen, dicken Mund immer so widerlich süss
spitzte, wenn er uns heimlich Leckerpfennige zusteckte. Er versucht’s
heute noch, wenn auch in anderer Weise. Die Ameise soll das Loch nicht
sehen; Sand in die Augen! Darum — Ameisenlöwe stimmt! Wenn Einer
an unserem Unglück Schuld hat, Otti, so hat’s der Herr Oberinspector
Theodor Brechtling!“

Sie ballte zornig die Hände und ihre Augen blitzten drohend. Otti
neigte zweifelnd den Kopf.

,,Aber wie sollte, Leo? Es sind doch ganz intime Familienangelegen-
heiten!“

„Intime? Der mischt sich in Alles und spionirt Alles aus! Und ganz
Rochollshof und Templin tanzen nach seiner Pfeife. Nur Eine nicht, Du
heimtückischer Vampyr, nur Leo von Rocholl nicht! Und Leo von Rocholl
wird Dir . . . Ueberlege Dir nur, wie der Mensch vor sieben Jahren zu
uns kam! Als Vagabund; selbst in Amerika hatten Sie nichts von ihm
wissen wollen. Nur hier gelang’s ihm! Was ist er heute? Oberinspector
von Templin und Papa’s rechte Hand! In sieben Jahren!“

„Aber Papa sagt doch, dass er sehr klug und geschickt ist!“

Leo hatte bereits den Fuss auf die unterste Treppenstufe des Hauses
gesetzt.

„Klug und geschickt?“ fuhr sie herum. „Und unser Phildoctor, dem
Papa die Oberinspectorstelle fest versprochen hatte, ist der etwa dumm
und liederlich? Nein, er versteht nur nicht zu heucheln und zu schmeicheln.
Er ist zu ehrlich und zu anständig dazu. Und auch zu schüchtern! Herr-
gott, wenn er nicht so schüchtern wäre — zu dumm! Wahnsinnig dumm!“
Sie stampfte zornig auf und schlug mit der Hand gegen das morsche
Geländer der Treppe, dass es in allen Fugen krachte.

Sie schob die verblüffte Schwester die Treppe hinauf und durch den
langen, halbdunklen Corridor in die Küche.

„Mia!“ rief sie hier. „Kaffee! Otti ist da!“

Mia antwortete nicht.

Auf den Steinfliessen der Küche sass sie. Ihr Rücken lehnte sich
gegen das Waschfass und ihre kleinen, nackten, in derben Holzschuhen
steckenden Füsse stemmten sich gegen den Herd. Ihr zierliches Köpfchen
aber mit dem schweren, goldseidigen Gelock war ihr seitwärts auf die
Schulter gesunken, und ihr schmales Gesichtchen schimmerte blass aus
der Dämmerung des Winkels hervor.

„Sie schläft!“ flüsterte Otti erstaunt. „Und, Leo, sie lächelt!“

Für einen Augenblick war es, als sei ein schwacher Abglanz dieses
zärtlichen Lächelns auch auf Leo’s Gesicht hinübergeweht. Dann nahm
es seinen früheren, herben Ausdruck wieder an.

„Natürlich schläft sie! Vor lauter Arbeit kommt sie ja sonst fast gar
nicht dazu. Und natürlich lächelt sie! Im Schlaf kann es ihr doch Niemand
verwehren! — Halt’ Dein Kleid fest, Otti, es raschelt unausstehlich. Und
koch Dir Deinen Kaffee selbst! Ich werde indessen . . .“

Sie krämpelte ihre Aermel auf und begann zu waschen. Leise, ganz
leise. Und vorsichtig, ganz vorsichtig, bis doch ein Tröpfchen über den
Rand des Waschfasses hinwegspritzte.

Mit einem leichten Aufschrei war Mia emporgefahren und wischte sich
die Tropfen aus dem Gesicht.

„Bist Du bei mir, Leo?“ rief sie keuchend, wie aus einem schweren
Traum erwachend. „Oh, es war furchtbar. Wir gingen über die Haide,
er, Du und ich. Da zog ein Gewitter herauf. Es tröpfelte schon. Und
wir hatten keinen Regenschirm bei uns. Er auch nicht!“

Otti sah Leo spöttisch an.

„Er auch nicht?“ wiederholte sie. „Das ist aber merkwürdig. Er hat
doch sonst stets einen bei sich. Alle Schulmeister haben immer Regen-
schirme bei sich!“

Leo erwiderte nichts.

„Knöpf’ Deine Augen auf, Mia!“ wandte sie sich halb ärgerlich, halb
lachend zu dieser, die sich schnell erhoben hatte. „Und behalte Dei ne
Träume für Dich. Siehst Du denn nicht, dass ein neugieriger Spatz hi er
ist, der sich dann gern in eine schwatzhafte Elster verwandeln möchte. ^
Brauchst gar nicht ein solch’ Gesicht zu machen, Otti! Meine Vergleich e
stimmen immer! — Na, gebt Euch einen Kuss, Ihr Weiber, und dann a°
Deine Strümpfe, Mia, damit es nicht wieder bis in die späte Nacht hinei n
dauert. Koch’ Dir schnell Deinen Kaffee, Otti. Wenn Papa zurückkornßih
wirst Du die Stärkung nöthig — Herrgott, wer knallt denn draussen s°
wahnsinnig mit der Peitsche? Und — Otti, was ist Dir?“

Otti war vor Schreck ganz blass geworden. In der jammervoH el1
Freude des Wiedersehens hatte sie nicht mehr an den Kutscher gedachf
den sie mit dem Wagen unten am See zurückgelassen.

„Es . . es ist der Kutscher!“ stammelte sie verwirrt. „Er knallt nnd
schimpft. Oh Leo, kannst Du mir nicht einen Thaler borgen?“

„Einen Thaler? Wozu?“

,,Für den Kutscher! Er hat fünf Mark für die Fahrt von der Stad 1
hierher zu fordern und ich hatte nur zwei. Er wollte zuerst nicht.
nutzte auch nichts, dass ich ihm sagte, der Herr von Rocholl auf Rocholl s'
hof, Templin und Amalienruh würde ihn bezahlen. Der Filz würde liebcf
verhungern, meinte er!“

„Das sagte er?“ grollte Leo in sich hinein. „Er scheint Papa wirklich
zu kennen!“

„Mich kannte er jedenfalls nicht!“ fuhr Otti lebhaft fort. „Ich W ar
bis an’s Ende der Stadt gelaufen, um eine Droschke zu wählen. Er f u^ r
erst, als ich ihm meine zwei Mark auf Abschlag und meinen Korb a^ s
Pfand gegeben hatte. In dem Korbe sind drei Flaschen Portwein f ür
Mama, von dem billigen italienischen, den sie so gern trinkt. Er ist a üI
dem Wagen unten am See im Hohlwege. Ich bin dort ausgestiegen, ' vel^
ich doch erst nachsehen musste, wo Papa war. Aber an die Fahrt werd e
ich denken! Bei jedem Wirthshause hielt der Kutscher an und trank ein en
Schnaps. Und unterwegs schimpfte er immer über die fehlenden dr eJ
Mark und fuchtelte mit der Peitsche. Einmal hat er mich sogar getroffen-
Sie hielt schluchzend inne und starrte Leo an. Leo war jählings ^
dunkelgeröthetem Gesicht in die Höhe gefahren und dann plötzlich aU^
etwas Langes, Dünnes losgeschossen, das neben dem Herde in d er
Ecke stand.

„Das hat er gewagt?“ knirschte sie. „Ah, warte, mein Bengelchei 1'
warte!“

Im nächsten Augenblick war sie draussen. Otti sah ihr erstaunt nachr
bis Mia in klappernden Holzschuhen und mit angstvoll weit geöffnet eIJ
Augen an ihr vorüberrannte, in jeder Hand einen langen, triefenden Strufflpi
haltend.

„Mein Gott, Mia, was hat Leo denn?“

Mia rannte weiter.

„Den eisernen Feuerhaken hat sie!“ jammerte sie. „Und wenn sie
den hat, so . . .“

Nun rannte auch Otti.

Vor der Treppe des Herrenhauses draussen hatte der Kutscher neb e!J
seinem Wagen gestanden, mit protzig auseinandergespreizten Bein etJ|
peitschenknallend und schimpfend, umgeben von einem Tross neugierio er
Melkweiber.

„Halt’ Dein Maul, Mensch!“ hatte ihm Trine eben zugerufen. „\Ven !l
unser Fräulein Dich hört . . .“

Er hatte verächtlich gelacht und die Peitsche zu neuem Schwung e
erhoben.

„Bah, ein Frauenzimmer! Mein Geld will ich! Heraus, alter Rocho' 1' 1'
mit den drei Mark, sonst soll Dich der Deibel lothweise . . .“

Er vollendete nicht. Es kam etwas die Treppe hinabgesaust. GRi^
darauf sass er drei Schritte weiter zurück im Sande und seine eig erl£
Peitsche lockte eine Staubwolke aus seinem Kutscherrock. Die Melkweü ,er
stoben nach allen Richtungen schreiend auseinander.

„Um Gotteswillen, Leo!“ rief Mia aus dem Hause herausjagend. „^ 1^
mit dem Feuerhaken!“

Leo machte eine kleine Pause.

„Da auf der Treppe liegt er! entgegnete sie verächtlich. „Ich saU
 
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