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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0121

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24

MODERNE KUNST.

Hatte Winand etwas gemerkt? Er hatte das zugebundene Taschentuch
aufgehoben und wog es prüfend in der Hand. Und seine Augen blickten
melancholischer als je. Er hatte nichts gemerkt.

Was aber wollte Leo? Zweifellos war etwas passirt, das Winand ver-
heimlicht werden sollte. War vielleicht der Reisende der Tuchfabrik ge-
kommen, dem Frau Amalie seit dem letzten Winter Leo’s und Mia’s Tuch-
kleider schuldig war? Oder hatte die Fabrik am Ende — o Gott! o Gott! —
bereits einen Gerichtsvollzieher mit der Pfändung beauftragt?

Ja, die Rocholl’s steckten bis an den Hals in Schulden! Und diese
kannte Winand nicht einmal!

,,Oh Winand“, stiess Frau Amalie wie betäubt heraus, „wir fahren
doch noch nicht nach Haus? Ich . . ich möchte erst noch ganz schnell
nach den Pfirsichen hinten an der Gartenmauer sehen, ob sie schon reif
sind. Pastor Müller hat sich neulich mehrere Male nach ihnen erkundigt.
Ganz gewiss, Winand, das hat er! Du weisst ja, wie gern er Pfirsichbowle
trinkt!“

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern griff nach dem Taschen-
tuch. Aber Winand’s Hand lag fest darauf, und so eilte Frau Amalie
ohne es hinaus.

Herr von Rocholl machte eine Bewegung zur Thür des Nebenzimmers
hin; allein Oberinspector Brechtling hatte dieselbe dienstbeflissen bereits
geöffnet, sodass sein Chef vom Schreibtische aus durch die Fenster des
Nebenzimmers hindurch bequem den grössten Theil des Parkes überblicken
konnte.

„Es ist Fräulein Leo!“ flüsterte Brechtling mit seinem süssesten Lächeln.
„Sie wird das Pferd an der Parkthür angebunden haben. —- Dürfte ich
dem Herrn Baron jetzt schnell die Procente abliefern?“

Herr von Rocholl schreckte aus seinem Grübeln auf. Er hatte wie
geistesabwesend das Taschentuch aufgebunden und aus demselben war
ein Thaler in die Brusttasche seiner Sommer- und Winter-Lodenjoppe
hinübergewandert.

„Welche Procente?“

Der Oberinspector holte einen Zettel aus seiner Geldkatze hervor,
die er noch um die Hüften geschnallt trug. Brechtling verbeugte sich
devot.

„Der Herr Baron wollen sich gütigst erinnern . . der Herr Baron be-
fahlen, die Hauswirthschaft koste zu viel, und so wäre es besser, die
Marktpreise gleich um zehn Procent niedriger anzugeben, damit die gnädige
Frau nicht durch einen zu hohen Abzug erschreckt würden. Daher haben
wir gewonnen: an den Champignons siebenundvierzig Pfennige, an den
Eiern . . .“

Er wollte die Posten von dem Zettel ablesen. Herr von Rocholl
winkte ungeduldig ab.

„Geben Sie nur her! Ich werde später selbst nachsehen. Und buchen
Sie die Summe auf Amalienruh!“ —

Er steckte den Zettel ebenfalls in seine Brusttasche. — „Uebrigens
möchte ich Sie bitten . . bringen Sie doch das von unserer schlechten
Waare nicht mehr vor. Es wiederholt sich zu oft und könnte auch meiner
Frau wehthun. Man müsste etwas Anderes“ . . .?

Der Oberinspector lächelte überlegen.

„Etwas Anderes? Sehr leicht. Wie wär's zum Beispiel mit einer
kleinen Ruhrepidemie?“

Herr von Rocholl sah erstaunt auf.

„Ruhrepidemie? Ich habe doch nicht gehört, dass sie in der Gegend
grassirte. Und ich verstehe auch nicht, zu welchem Zweck . . .“

Brechtling zwinkerte pfiffig mit den wasserhellen, kleinen Augen.

„Nun, bei einer Ruhrepidemie verbieten die Aerzte jeden Genuss von
rohem Obst, frischem Gemüse, Butter und dergleichen. Müssen die Markt-
preise dadurch nicht rapide sinken? Die Epidemie braucht gar nicht hier
bei uns zu grassiren, vielleicht in Amerika oder Indien! Ich würde die
Notiz schon in’s Kreisblatt lancieren. Buchbindermeister Flörke, der Chef-
redacteur, wird sie unbedenklich aufnehmen, wenn sie von mir kommt.
Er weiss ja, dass ich in Amerika war!“

Er sah Herrn von Rocholl erwartungsvoll an. Herr von Rocholl er-
widerte nichts; er sass tief in Gedanken versunken am Schreibtisch und
seine Hand beförderte mechanisch einen Thaler nach dem anderen aus
dem Taschentuch in seine Brusttasche.

Was hatte Leo nur hergeführt? Was verbarg sie vor ihm, sie, die
jede Heimlichthuerei verabscheute? War ein Pferd gefallen oder eme
Maschine zerbrochen? Oder hatte er vergessen, seinen Secretär auf
Rochollshof zu verschliessen und war Leo beim Aufräumen über das
Geheimfach gerathen? Er fühlte wie seine suchenden Hände zitterten;
dann athmete er erleichtert auf. Das Schlüsselbund rasselte in seiner
Tasche.

Gleich darauf trieb ihm ein neuer Gedanke alles Blut aus dem Haupte
nach dem Herzen. War vielleicht der Verschollene, der Todtgeglaubte
plötzlich aus Amerika zurückgekehrt, um seine Feinde, die Rocholls, zu
vernichten?

Dem alten Herrn war’s als drehe sich Alles um ihn her in wilden,
wirbelnden Kreisen.

„Brechtling!“ stiess er heftig heraus. „Waren Sie bei meinem Rechts-
anwalt wegen . . wegen des Amerikaners?“

Er pflegte ihn so zu nennen, seinen Stiefbruder Fritz von Rocholl,
der als neunzehnjähriger Brausekopf vor nunmehr achtzehn Jahren in die
weite Welt hinausgestürmt und seitdem spurlos verschwunden war.

Oberinspector Brechtling verneigte sich.

„Zu Befehl! Der Rechtsanwalt lässt dem Herrn Baron sagen, dass
der letzte Termin in der Todterklärungssache des Flerrn Fritz von Rocholl
in allernächster Zeit abgelaufen sei, dass sich aber heraus gestellt habe,
dass . . .“

Herr von Rocholl fuhr jäh zusammen.

„Er hat sich gemeldet?“

Der Oberinspector lächelte, fast mitleidig.

„Aber, Herr Baron! Es ist gar nicht möglich, dass er zurückkommt.
Als ich ihn das letzte Mal in Californien sah, lag er auf den Tod. Nein,
es hat sich herausgestellt, dass noch eine formelle Erklärung von Ihnen
nöthig ist. Der Rechtsanwalt hat mir deshalb eine Vollmacht mitgegeben,
die er unterschrieben zurück erbittet. Ich habe sie hier in . . . ja, Herr
Baron, es steht faul iiberall! Weizen matt und Roggen flau! Gott weiss,
was daraus noch werden soll!“

Er hatte die letzten Worte mit erhöhter Stimme gesprochen und das
Couvert mit der Vollmacht, welches er bereits halb aus der Geldtasche
hervorgezogen, heftig wieder zurückgeschoben. Die Glasthür hatte geklirrt
und Frau Amalie war eingetreten.

„Sie sind zwar noch nicht ganz reif, Winand!“ rief sie schon von
Weitem. „Aber wenn sie noch ein wenig hängen, werden sie’s wohl
werden!“

Winand stand ärgerlich auf. Warum war sie nicht länger draussen
geblieben, dass er die Vollmacht entgegennehmen konnte? Die Vollmacht
musste heute noch zum Rechtsanwalt zurück. Vielleicht, dass das Heil
der Rocholls an einer Minute hing!

„Was hängt? Was wird wohl werden?“ schrie er. „Zum Henker,
Amalie, ich bin kein Gedankenleser!“

Frau Amalie unterdrückte einen Seufzer. Früher, vor achtzehn Jahren,
hatte er ihre Gedanken immer gelesen. Jedesmal, wenn sie sich im Stillen
einen Kuss von ihm wünschte, hatte er ihr einen gegeben.

„Ich dachte an die Pfirsiche!“ sagte sie leise. „Sie haben schon ganz
reife Backen, aber reif sind sie doch noch nicht. Ich habe Dir einen mit-
gebracht, Winand, damit Du . . .“

Sie schwieg verwirrt. Sie hatte den Pfirsich doch eben noch in der
Hand gehabt, und nun hatte sie ihn doch nicht. Hatte sie ihn unterwegs
fallen lassen, während sie Leo zu überreden suchte, länger als zehn Mi-
nuten zu warten? Denn länger wollte der Feuerkopf nicht. Wenn dann
die drei Mark nicht in ihren Händen wären, hatte Leo erklärt, so werde
sie auf eigene Faust handeln.

Und nun waren bereits drei Minuten verflossen und das Taschentuch
mit den dreiundsiebzig Mark lag auf dem Schreibtisch und Frau Amalie
konnte nicht zu ihm gelangen. Wenn Winand nicht fortging, so . . .

Es war eine schwüle Stille im Zimmer.

„Wolltest Du nicht nach den Schweinen sehen, Winand?“ ermannte
sich Frau Amalie endlich. Du f'ürchtetest doch, dass sie den Rothlauf be-
kommen würden!“

„Ach was, Unsinn!“

Wieder eine Minute.
 
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