Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

DOI Artikel:
Feilmann, Johanna: Weltstadt-Skizzen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0130

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
34

MODERNE KUNST.

Abendstunden das Westend, die City, den Osten und auch die Vorstädte
die Kreuz und Quer; auf Schritt und Tritt bietet sich bis tief in die Nacht
hinein Gelegenheit dazu. Ein sinnverwirrendes Getriebe zum Fortbewegen
der Massen, und doch, mit welcher Pünktlichkeit greifen die einzelnen
Theile in einander trotz der riesigen Verhältnisse. Da fahren sie an der
einen Seite hinauf, an der anderen hinab, oft in unabsehbarer Folge, in
doppelten Reiheri, die Atlasse und die Favorites, die Metropolitan- und die
Distrikt-Omnibusse, und wie sonst sie alle heissen mögen; dunkelgrün,
hellgrün, roth, braun, gelb, in allen Farben des Regenbogens, menschen-
beladen, mit Reclamezetteln bedeckt, hier mit einem grossen Stern an der
Stange, dort mit einem gigantischen feuerrothen Schirm am Kutscherbock
als Kennzeichen.

Wie die schwarzen Schornsteine auf den Dächern streben die dicht
gereihten Cylinderhüte in die stauberfüllte Luft, denn der Cylinderhut ist
ja noch immer das Abzeichen des würdigen Kaufherrn, aber da geht
die Welt nicht aus ihren Fugen? hat man vor sechzig Jahren solch Un-
erhörtes nur geträumt? Hie und da sitzt eine zierliche kleine Miss an der
Seite ihres Vaters oder Bruders. Die Zeiten haben sich geändert; nicht
jeder überseeische Kaufmann ist der Crösus, den er gewöhnlich im Roman
spielt, und die Goldsäcke stehen aueh nicht immer auf ganz festem Boden.
Eine der Töchter der kindergesegneten Familie hat fremde Zungen und
das Buchhalten erlernt und ersetzt in der Firma
Carey, Brothers & Co. dem Vater den früher
unentbehrlichen sprachkundigen deutschen Cor-
respondenten. Wie in der City die Männerwelt,
so herrscht am Morgen in den eleganten Strassen

des Westend die Frauenwelt auch in den Omnibussen vor. Wie das
hörnchen geschwind ersteigt die Londonerin die gewundene Treppe url
huscht am erreichten Ziele ebenso geschwind hinab, um nach verrichte ter
Besorgung auf einem anderen Wagen ihre Shopping-Tour fortzusetzen-
Die echte Londonerin erkennt gewöhnlich schon von Weitem ihi eT1

. gj'

Buss, den Buss, der sie ihrem Ziele nahe bringt, weiss genau .wohm
fährt und an welchen Plätzen unterwegs er hält; da aber steht am Hal te
platz beim Oxfordcircus oder an irgend einer anderen besonders lebhaf ten
Strassenecke die Provinzlerin, geblendet vom Gewühl, betäubt vom Stimm 611
gewirr, vom Rasseln der Wagen und Stampfen der Hufe. Wi e ^ el1
richtigen Omnibus aus dem sich bildenden Knäuel herausfinden! E er

Omnibusführer ruft wohl h erl
Bestimmungsort, Bakerstr eet’
Piccadilly, Westminster, °^ ef
wohin er fährt, wer aber k an0
in diesem Gewimmel irg en
einen Laut deutlich versteh et1’
Omnibusse derselben Route f°'
gen einander in kurzen
schenräumen von fünf bis
Minuten, die Farbengeblend ete
aber sieht buchstäblich oft d etl
von ihr gesuchten Omnibus nirh 1
vör lauter Omnibussen. ImnW
wieder lässt sie einen abfahr eI1’
bis ihr Auge endlich auf d en
von ihr ersehnten Atlas fäÜ*"
Aber o weh! sie muss dicht an
den Köpfen der Pferde vorüb el?
um ihn zu erreichen; äng stlick
zögert sie, indess andere di e
soeben leer gewordenen Plä tze
schnell erstürmen. Wie das all eS
hastet und sich drängt, wie d et
Stärkere den Schwächeren rück
sichtslos bei Seite schiebt! K el
ner will zurückbleiben; im N u
ist der Wagen voll. Der Sch utz
mann in der Nähe aber hat j etz
die Schüchterne bemerkt, di e
nicht weiss, dass er das v ef'
körperte Auskunftsbureau, ' vie
auch der Rettungsengel für d etl
Unerfahrenen ist. Hülfsberei 1,
ritterlich wie die meisten sein er
Londoner Collegen geleitet er
sie bei Ankunft des nächs te11
Atlasses durch die WagenbuCß
und verschafft ihr schnell ein erl
Platz. Was findet sich hi er
auf dem Deck nicht alles zU
sammen. Für einen Penny fährt man ja weite Strecke 11'
für einige Pence von der Vorstadt aus durch die schö n
sten interessantesten Theile von London, ohne dass ma n
genöthigt wäre, den Wagen auch nur ein einziges Hal
zu verlassen; natürlich kann man aber an den viel en
Ilaltestellen absteigen und nach Belieben irgend eiu e
andere Richtung einschlagen, muss jedoch auf’s N etie
zahlen; Billets, die zur Weiterfahrt in einem ander etl
Omnibusse berechtigen, giebt es nicht; Karten °^ er
Zettel, wenn solche überhaupt verabreicht werden, di etiel1
gewöhnlich Reclamezwecken, empfehlen irgend eine Sei^ e'
oder — ein neu eröffnetes Theater. Und mit oder ohn e
Schein für geleistete Zahlung, je nach den Regeln & eX
verschiedenen Gesellschaften, geht es bald voriiber

Das Hansom-Cab. Originalzeichnung von O. Marcus.

der Westminsterabtei, am Parlamentsgebäude, bald hu 1
weg über das wundervolle Victoriaembankment,

4
 
Annotationen