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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Feilmann, Johanna: Weltstadt-Skizzen
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0131

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MODERNE KUNST.

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nach dem Strand, nach den neuen Gerichtshöfen, durch Fleetstreet
ihren hohen malerischen, vom Geiste Ben Johnsons umwitteiten
'iäusern, die Strasse, in der die alten Literaten mit Vorliebe wandel-
teni und die noch lieute der Hauptsitz der englischen Presse ist, dann
"^der nach den Prachtbauten der City, der St. Paulscathedrale, dem
^ansionhouse, der Guildhall, dem Tower, zurück nach demWest-
end, nach Trafalgarsquare, nach Oxfordstreet, nach der sich im
■Ualerischen Halbzirkel hinziehenden Regentstreet. Da strömt Alles
2Usammen, was das Londoner Leben abwechselungsreich gestaltet
und eigenartig, wie das keiner anderen Stadt. Hier ist die Grenz-
Scheide zwischen dem industriellen
^°rden und dem durch Theater
uud Presse beeinflussten Süden,

^tvischen dem fashio-
nablen Westen und dem

Sdderwerbenden Osten.

V

°n hier aus strömt die

ßl-

de

Utwelle der Weltstadt in die unzähligen Adern und Aederchen, welche
n gewaltigen Organismus nähren und erhalten. Welch giossaitiges

anorama überall! Und was für einen wundervollen Rahmen bilden unter'm

*^auen Himmel die hohen Häuserreihen der breiten Strassen zu den cha-
rakteristischen Bildern des bunten Londoner Treibens; selbst der viel
§ eschmähte Russ verschönert die Bauten; der Sonnenschein verleiht den
§ eschwärzten Mauern goldige Tinten, dass das Gestein hie und da wie
r°nze in verschiedenen Tönen schimmert. In der Nähe des Fahrenden
sich seinem Blicke alles in leuchtender Farbe, in der Ferne umwoben
V° n bläulichem Dufte. —

Und diese typischen Gestalten der verschiedenartigsten Classen auf

ein Decke des Omnibusses? Dort die behäbige Dame mit dem röthlich

^ erhauchten Gesichte, den wasserblauen Augen, der schweren perlen-

esäten Sammtmantille und der nickenden grünen Feder auf dem Hute

Trtritt das mittelälterliche weibliche Geschlecht des Londoner wohlhabenden

Urgerstandes; ihr Ziel ist sicher das Magazin von Peter Robinson in

0

^fordstreet, dem Eldorado aller haushälterischen Mütter; die jungen

,,S

H

Vvells“ hier neben den eleganten Dämchen halten Cataloge in den
änden; heute werden die Bilder in der Royal Academy im Fluge be-
rachtet, man muss ja dort gewesen sein; im Grunde ist ihnen aber die
" brtation“ beim Lunch und später in Hydepark viel wichtiger als der
^nblick aller Bilder in der Welt. Auf der Fahrt, in Gegenwart von anderen
Scbweigen sie, wie im fashionablen Westend alles im Allerweltswagen
ebweigt; ja in einem fahrenden Wachsfigurencabinet könnten die Gesichter
lcbt unbeweglicher sein. Und doch wie vieles lässt sicli nicht in den
ugen lesen.

q Dier sitzt neben einer grade nicht schönen „Aesthetikerin“, die ihre
^chmacksrichtung durch einen terracottafarbenen Anzug ä la Kategreen-
y bekundet, ein bleiches einfach gekleidetes Mädchen mit grossen
Sprechenden Augen, auf dem Schoosse einige von Riemen umschnürte

Bücher; wer weiss,. wie oft sie hin und her fahren muss,
um hie und da ihre Stunden zu geben. Im sonnigen
Glanze des Junimorgens ist ihr die kleine Reise auf dem
Omnibus ein Genuss; unwillkürlich aber denkt man bei
ihrem Anblick an den trüben Herbst, wenn der Nebel London wie mit
einer Tarnkappe verhüllt, wenn alles, was jetzt das Auge erfreut, schemen-
haft aus dem Dunkel auftaucht und verschwindet, wenn die grünen, blauen,
rothen Omnibuslichter sogar dicht in der Nähe der am Halteplatze Har-
renden kaum erkenntlich sind, wenn die feuchtkalte Luft in die auch im
Winter thürlosen Wagen dringt, und sie allen Angriffen des unheim-
lichen Feindes der Londoner, des entsetzlichen Herbstnebels, ausgesetzt ist.

In den geschlossenen Tramwagen der Pferdebahn fährt es sich dann
schon besser, in den Hauptstrassen des Westend aber und im Kernpunkt
der City giebt es keine, da der starke Verkehr die Schienen nicht zulässt.
Und dennoch sind an tausend Tramwagen in steter Bewegung. Sie stehen
mit den Bahnhöfen in Verbindung, sie fahren durch die minder belebten
Strassen, sie fahren nach den Vorstädten, und oft noch viel weiter hinaus
in’s Grüne, bis an die umliegenden Dörfer. Ja, sie sind am Sonntag die
offene Equipage des Ostendarbeiters, der die nur einige Pence kostende
Spazierfahrt in’s Freie mit seiner Familie, der Schenke vorziehen gelernt
hat. Dann geht es vielleicht mit demselben „Tram“, der den Vater Tag
für Tag zur schweren Arbeit nach den westindischen Docks geführt, nach
dem Victoriaparke, der einzigen grossen Oase in der Nähe des rauch-
geschwärzten und vom Branntweindunst der Schänken erfüllten Häuser-
meeres. Was immer nur auf dem Deck Platz findet, thront auf den
bequemen, gartenstuhlähnlichen Sitzen; alles andere muss sich mit dem
Innenraum begnügen, denn auf Stehplätze sind die Londoner Tramwagen
nicht eingerichtet. Der Conducteur giebt das Zeichen zur Abfahrt auf
einer kleinen schrill klingenden Pfeife, die Kleinen jubeln und jauchzen;
der Victoriapark ist ja für sie, die Kinder des Eastend ein wahres Paradies;
dort giebt es schattige Bäume und grüne Rasenplätze, auf denen sie spielen
können, und herrliche Teiche mit Schwänen, alles Wunder, die sie im
Laufe des Sommers nur selten schauen; ist doch selbst der Penny, den
die Fahrt kostet, für den Vater eine grosse Ausgabe, ein Opfer.

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Auf dem Omnibus-Verdeck.
 
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