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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [5]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0170

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76

MODERNE KUNST.

„Er ist drüben? Jetzt?“

Leo stand bereits in der Hinterthür der Molkerei, von wo aus an der
Rückseite der Gebäude entlang ein schmaler Pfad zur Scheune hin-
überführte.

„Wo denn sonst?“ gab sie ärgerlich zurück, um mit einem spöttisch-
neckenden Lächeln hinzuzusetzen: „Soll ich ihn von Dir grüssen?“

Mia zuckte zusammen.

„Leo! Du willst hin?“

„Natürlich! Um ihn zu bena&hrichtigen. Wir wären ja unerlaubt
dumm, wenn wir diese grossartige Gelegenheit unbenutzt liessen. — Na?“
Mia erhob flehend die Hände.

„Oh Leo, thu’s nicht! Denke, wenn Onkel es merkte und uns über-
raschte! Er hat es uns ausdrücklich verboten und . . .“

Leo warf energisch den Kopf zurück.

„Unsinn! Wenn Papa mit Wichers zu thun hat, dauert’s immer lange,
ehe er nach Haus kommt. Wichers hat gute Wcine und sie kosten Papa
nichts. Er wird also nichts merken! Und ausserdem — ich will es; basta!“
Sie war fort. Mia seufzte bekümmert. Bei jeder Welle Butter, die
sie in das Zehnpfundkübel packte, seufzte sie. Es war ihr, als lege sich
das Gewicht derselben mit erstickendem Drucke auf ihr Herz, dass es
kaum mehr zu klopfen vermochte.

Bis eine mächtige Stimme vom Herrenhause her über den Hof dröhnte.
„Leo! Die Butter! Herrgott, welche Bummelei! Na, ich werde Euch
helfen!“

Die Stimme kam näher und näher und Mia sah durch das Fenster
der Molkerei, dass der Einspänner bereits vor der Thür hielt und dass
Onkel gefolgt von Tante Amalie und Otti heftig gesticulirend über den
Hof auf die Molkerei zuschritt.

Und Leo war noch nicht da!

Mia wusste nicht, was sie beginnen sollte. Sie wollte rufen, aber sie
brachte keinen Ton heraus. Dann schleppte sie halb bewusstlos das Zehn-
pfundkübel zur Vorderthür und rannte zur Hinterthür zurück. Von Leo
keine Spur.

Mia rannte wieder zur Vorderthür. Herr von Rocholl war schon in
der Mitte. des Hofes und das Zehnpfundkübel — Mia schleppte es zur
Hinterthür zurück. Sie wusste nicht, warum; aber es erleichterte sie ein
wenig. Dann schaute sie hinaus und athmete auf.

Leo jagte um die Ecke der Scheune heran. Ihr Gesicht glühte und
ihre Zöpfe flogen hinter ihr her durch die Luft.

„Bist Du fertig?“ keuchte sie. „Schnell, fass’ an! — Der Phildoctor
ist um halb elf bei dem Loch in der Hecke. — Ja, ja, Papa! Wir kommen
schon! — Er wollte erst nicht, der Hasenfuss; aber da ich ihm sagte, dass
Du ihm ewig böse sein würdest . . .“

Das Kübel in Mia’s Hand schwankte.

„Das hast Du ihm ge —?“

„Still jetzt!“ schnitt ihr Leo das Wort ab. „Papa kann uns hören! —
Ilier ist die Butter, Papa! Zehn Pfund prima!“

Sie standen in der Mitte des Hofes vor Herrn von Rocholl und setzten
das Kübel nieder. Herr von Rocholl war wüthend.

„Was soll das heissen, dass Ihr mir nicht antwortet, wenn ich rufe?
Seit einer Viertelstunde schreie ich die Lunge nach Euch aus und Ihr . . .“
Er vollendete nicht. Seine drohend erhobene Hand blieb wie gelähmt
in der Luft hängen und seine weit geöffneten Augen starrten Leo an. Es
dauerte lange, bis er seine Stimme wiederfand.

„Leo!“ sagte er dann in einem seltsam tiefen melancholischen Tone.
„Leo,'wo hast Du das her?“

Sie sah möglichst harmlos und möglichst erstaunt zu ihm auf.

„Was denn, Papa?“

Er tippte ihr mit dem ausgestreckten Zeigefingcr vorsichtig auf die
Schulter.

„Das! Dreh’ Dich doch ’mal um, mein Mäuschen!“

Mein Mäuschen — wie er es gesagt hatte! Eine dunkle Ahnung von
etwas Furchtbarem stieg in Leo auf. Aber sie gehorchte; sie biss die
Zähne zusammen und drehte sich um.

Und Frau Amalie schlug erschreckt die Hände gegen einander, und
Otti machte ein erstauntes Gesicht, und Mia schrie auf und setzte sich,
todtenblass, auf das Zehnpfundkübel.

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zerspli tterten

Denn sie sahen Alle, was auf Leo’s Jacke lag: den grauen,
Dreschstaub und die versprengten Getreidekörner und die . . gS

Strohfetzen. Am Ende aber des einen Zopfes hing ein dickes, schrnu^
Spinnengewebe, in dem sich ein langer Strohhalm mit noch vollei
gefangen hatte. Er tänzelte graziös hinter Leo auf dem Boden hei- ^ ^
„Möchtest Du mir nicht erklären, was das ist?“ fragte Herr von R° e ^
mit furchtbar gemüthlicher Ironie. Dann, da er keine Antwort e
beugte er sich langsam vor und löste behutsam mit den Fingerspi tze11 ^
Strohhalm, um ihn prüfend zu betrachten. „Roggen ist’s. Von dei

jährigen Ernte. Wir haben lange nicht mehr so grosse,

dichtge

füU te

Aehren und so wundervoll ausgewachsene Halme gehabt. Aber trotzd ^
werde ich dem Phildoctor gehörig den Standpunkt klar machen fflilS
Der Mann wird ja täglich confuser! Hab’ ich ihm nicht gesagt, er so
Dreschmaschine in der Scheune aufstellen lassen? Und nun hat er
der Molkerei ..."

Leo fuhr jäh zu ihm herum.

„Zum Henker, was hat der Phildoctor mit der Molkerei zu thun

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sie zornig, mit dem Fusse aufstampfend.

„Ich muss den Schmutz erwischt haben, als ich das Butterkübel a

einem Winkel hervorholte.
schmutzig machen?“

Sie sah ihn herausfordernd an.
Hohnes.

Darf man sich denn nicht einmal ItlC*
Er lächelte voll melancholi sC^

„Nein, man darf es nicht! In einer Molkerei soll es keinen Schü 1'

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winkel geben. Und deshalb — ja, ich werde sie sofort, jetzt gl e
revidiren. Aber das sage ich Dir, Mädel, wenn ich .

Er brach ab. Frau Amalie hatte plötzlich aufgeschrien und v'at
Mia gestürzt. Mia sass nicht mehr auf den Zehnpfundkübel; sie war
demselben auf den Boden herabgerutscht und sass nun neben ih nl
geschlossenen Augen und erblichenem Gesicht.

„Sie ist ohnmächtig!“ rief Frau Amalie und bettete Mia’s K°P
ihren Schoss. „Otti! Leo! Schnell, Wasser!“

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Otti und Leo flogen in’s Haus und Herr von Rocholl stand reg luo ,

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los, wie an den Boden geheftet, und starrte die blassen Wangen ^ ^
Lippen da vor ihm an, die aussahen, als würden sie sich niemals ' V1L

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mit lebendiger Röthe füllen.

Nur einmal in seinem Leben hatt'e er Aehnliches gesehen, daiü'
als Otti und Leo, die Zwillinge, geboren wurden. Da war Frau A 11111


aus einer Ohnmacht in die andere gefallen, und jedesmal hatte er gegl aU

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sie sei todt und war rathlos aus einem Zimmer in das andere gela 111
und hatte sich die Haare gerauft und geschluchzt wie ein Kind.
war sich vorgekommen wie ein Räuber, Mörder und Henker.

War’s jetzt nicht fast gerade so? i

„Aber wie ist das möglich?“ stammelte er fassungslos. „So plö tz' 1L
Woher hat sie das?“

Frau Amalie schaute flüchtig auf, während sie Mia’s Schläfe rieh-
„Oh, Winand,“ sagte sie in ihrem leise klagenden Tone; „Ohnma c

kommen immer plötzlich. Besonders, wenn es so heiss ist. Und Fli a

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so zart. Und auch ein wenig bleichsüchtig. Ich fürchtete immer s
dass sie für das viele Arbeiten nicht stark genug wäre. Bleichsüc’l 11 -
Mädchen müssen sich schonen, sonst können sich leicht gefährliche K rU
heiten bei ihnen entwickeln.“

Er fuhr sich mit beiden Händen nach der Stirn
waren verschleiert von düsterer Melancholie.

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und seine A s

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„Und das sagst Du erst jetzt?“ rief er ausser sich. „Und in ein
Tone, als wenn ich daran Schuld trüge! Kann ich mich um Alles küinn 1
Es würde Euch wohl noch Spass machen, wenn sie stürbe und Ihr koü 1
sagen, ich hätte sie . . .“

Frau Amalien’s Augen füllten sich mit Thränen.

„Aber, Winand,“ sagte sie flehend, „Du weisst doch . .

Er liess sie nicht ausreden in seiner Angst.

„Ich! Ich! Ich weiss nichts! Und Du, die das wissen musste
mir nicht einmal bei! Warum liegt sie noch da? Warum ist sie .g
schon längst im Bette? Und warum ist sie bleichsüchtig? Weil H 11 ,

übermässig anstrengt, weil Ihr sie mit Eurer Wirthschafterei zu Tode {

Aber das soll anders werden! Dass ich sie Morgens vor zehn L Thr .

sehe, hörst Du, und dass sie Abends Punkt sieben in den Federn

ste.

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