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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [11]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0273

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184

MODERNE KUNST.

„Oh mon Dieu,“ sagte sie in dem Französisch des ersten Kaiserreichs
zu ihrem Nachbar, während sie den Weiterschreitenden halb geschmeichelt,
halb neidisch nachlorgnettirte; „wie sich diese beiden Alten conservirt
haben. Sie sind wie Kinder und arbeiten dabei wie Parvenus! C'est
etonnant, n’est-ce-pas, Vicomte?“

Sie hielt ihn für einen Vicomte, da er nur französisch und über Paris
mit ihr sprach. Es war aber Herr Anton Wichers, Sohn von Wichers & Co.,
Bankhaus und Getreidehandlung. Herr von Rocholl selbst hatte cliesen Platz
für ihn bestimmt und dadurch, ohne es zu wollen, das höchste Entzücken
des Weltumseglers hervorgerufen. Es war das erste Mal in seinem Leben,
dass Herr Anton Wichers neben einer echten Gräfin sass. Sie war zwar
die Tochter einer Pariser Wäscherin, aber ihr verstorbener Gemahl hatte
sechszehn Ahnen gehabt. Konnte sie da jünger aussehen?

Am unteren Ende der Tafel der Jungen stutzte Herr von Rocholl und
klopfte einem in tiefes, finsteres Sinnen versunkenenMädchen auf dieSchulter.

„Nanu,“ sagte er erstaunt, indem er auf den Platz neben ihr deutete,
den einzigen leeren Piatz im ganzen Saale, „wo ist er denn, Dein Tischherr?“

Leo zuckte wüthend die Achseln.

„Warum fragst Du? Er that recht, fortzueilen. Was soll er hier,
wenn er in sechs Wochen doch gehen muss!“

Herr von Rocholl lächelte und streichelte ihr begütigend die Wange.
Dann bettelte er auch bei Leo polnisch.

„Ich bitt’ gar schön: für mich einen neuen Oberinspector von Templin;
denn den alten schmeiss’ ich morgen ’raus, und für meine Frau einen
Schwie— na, das wird sich ja wohl später finden!“

Leo sprang überrascht auf und starrte ihn an.

„Papa!“

Er nickte ihr mit lustigem Drohen zu.

„Hast’s ja gestern verschworen, das Reiten. Aber das Fahren doch
nicht, wie? Was meinst Du, wenn Du schnell nach Amalienruh . . .?“

Leo war schon draussen. Herr von Rocholl aber hob die.Tischkarte
ihres Nachbarn auf, die sie herabgeworfen hatte. Ein Name stand darauf:
Dr. Hans Seegebusch.

Und sie bettelten polnisch weiter bei der nächsten Dame.

„Ich bitt' gar schön: schau' nicht so ängstlich hinter Leo her, kleine
Mia. Hast zwar Recht, müsstest ihr eigentlich folgen. Hab's Dir ja selbst
befohlen, sie nicht aus den Augen zu lassen, sie und ihn. Denn.nungeht
sie zu ihm und holt ihn. Bleib' sitzen, Kind!“

Mia war jedoch schon aufgesprungen.

„Onkel!“

Er nickte ihr zu, wie vorhin Leo.

„Lass’ sie laufen, fahren, reiten! Meinetwegen nach Amalienruh. Kann
ich mehr thun?“

Nun strahlte auch Mia’s Gesicht, wie vorhin Leo’s Gesicht gestrahlt hatte.

Und sie bettelten polnisch weiter. Bis sie zu einem Herrn karnen,
der von seines Leibes runder Fülle mit süssem Lächeln aufsah.

„Grossartig, diese Forellen,“ schmatzte er. „Sie waren meines seligen
Vaters Leibgericht!“

Ueber Herrn Rocholl's Gesicht legte sich eine finstere Wolke. Dann
lächelte auch er.

„Ich bitt' gar schön: für mich um Ihre Demission und für meine Frau
um die heimlichen Gemüsedifferenzen!“

Herr Oberinspector Theodor Brechtling lächelte nun nicht mehr. In
seinen kleinen wasserblauen Aeugelein blitzte es drohend.

„Ah, nun, da sie seine Toderldärung haben,“ zischte er unterdrückt,
„nun soll ich . . . Aber nehmen Sie sich in Acht; ich könnte diesen Herr-
schaften sonst eine Geschichte erzählen, die Geschichte vom Hungerloos
derer von Rocholl!“

Herr von Rocholl nickte auch ihm zu und klopfte auch ihm auf die
Schulter.

„Nicht nöthig, Verehrtester! Ich selbst werde sie ihnen erzählen,
nachher, beim Sect!“

*

Und der Sect perlte in den Gläsern und Frau Amalie schlüpfte heim-
lich hinaus in die Gaisblattlaube und Herr von Rocholl klopfte an sein
Glas und erhob sich und begann seine Rede.

„Meine Damen und Herren!“ begann er. „Liebe Freunde und Nach-

baren! Sie Alle werden sich im Stillen über den jähen Umschwung I' lCl
aui dem Rochollshofe gewundert haben. Einige von Ihnen haben mich auci'
bereits nach dem Grunde gefragt und ich habe ihnen geantwortet: nachheb
beim Sect! Nun, wir sind jetzt beim Sect und nun sollen Sie’s erfahren-

Er machte eine kleine Pause, um die Spannung zu erhöhen und stai> te
in sein Glas. Und so sah er es nicht, dass sich hinter ihm die Thür zu» 1
Garten leise öffnete und dass zwei Menschen Hand in Hand durch sie
eintraten, Frau Amalie von Rocholl mit einem Manne von 36 Jahren, 111 lt
dem Guten, dem, Schönen, dem Herrlichen.

„Ich muss ein wenig weit ausholen,“ fuhr Winand sinnend 'fort, „ u111

Ihnen die Sache erklärlich zu machen. Es ist auch etwas Trauriges dabef

etwas, von dem ich wünschte, dass es sich nicht ereignet hätte. Sie Ah e

wissen, dass vor nunmehr 18 Jahren mein Stiefbruder Fritz heimlich aus



wanderte und verschollen blieb die ganze Zeit hindurch. Und nun ist er • • •

„Wieder da!“ sagte Frau Amalie strahlend.

—*»- Zehntes Kapitel.

Nun war er wieder da.

Winand von Rocholl sah es, und sein eben noch jovial lächelnd eS
Gesicht wurde bleich, wie das Linnen der Tafel. Und während er vü
dem Todterklärten zurückfuhr, zuckte seine Hand von der Lehne sein eS
Stuhles empor und sauste dann schwer auf das Sectglas vor ihm nied eI>
es mit dumpfen Krach zerschmetternd. Und das goldene Nass spritz te
mithin über den Tisch.

Frau Amalie aber schrie auf.

„Oh, Winand, so sieh ihn doch an! Es ist ja Fritz, unser Fritz!

Und Fritz, unser Fritz, streckte ihm bittend die Hand entgegen.

„Ja, ich bin's! Verzeih', dass ich so plötzlich, unvermuthet vor
trete, aber ich . . .“

Er vollendete nicht. Winand hatte ihnt stumm den Rücken gekel» 1’
den ihm zunächst stehenden Landrath zur Seite geschoben und die Aug e|1
starr geradeaus gerichtet den Saal verlassen.

Ein verworrenes Durcheinander von Stimmen und Fragen tönte ü» 11
nach. Frau Amalie aber sank auf einen Stuhl und schlug schluchzeU^
die Hände vor’s Gesicht und stönte.

„Beim Sect! Wie vor siebzehn Jahren!“

Im Corridor kam Herrn von Rocholl die abnungslose Mia entgege»'

„Ich wollte rjur nachsehen,“ stammelte sie, bei seinem Anblicke el
röthend, „ob Leo und der Phildoctor noch nicht kommen. Ich habe ab fil
nichts von ihnen entdeckt!“

Herr von Rocholl blieb mechanisch vor ihr stehen und starrte slß
verständnislos an.

„Leo und der Phildoctor?“ wiederholte er monoton. Denn plötzli^ 1
kam die Erkenntniss tiber ilin, wie ein Blitz. „Und ich selbst habe sie • • '
stiess er mit einem grellen Lachen heraus; „Herrgott, und nun haben s' e
sich schon hineingeträumt und . . . es geht doch nicht mehr, es geht ni c^*^
Nun, da er wieder da ist . . .“

Eine wilde Wuth kam über ihn. Ah! Und wenn er tausendmal \vie^ el
da war ... er . . . er . . .

„Schnell!“ knirschte er und packte Mia rauh an den Schultern »»
stiess sie aus dcr Hausthür. „Ihnen entgegen! Sie sollen zu mir komm e»'
sofort! Ich will ihnen . . . Herrgott, dass Du sie mir nicht einen Aug el1
blick unbeaufsichtigt lässt! Hörst Du? Sonst . . .“

Er hielt sich am Pfosten und stierte ihr nach, bis sie im Hofthoi' %cC

hef

schwunden war. Aber er sah sie nicht, er sah nichts. Alles um ihn 1
drehte sich in wildem, rasendem Kreise. Und eine hohnvolle, schad el
frohe Stimme leierte den Reigen dazu.

Nun ist er wieder da! Nun ist Alles verloren!

Als er sich umwandte, standen Otti und der Amtsrichter vor
Er sah ihre bestürzten Gesichter wie durch einen Nebel und l» 1-' 1
heiser auf. . ?

„Papa!“ rief Otti angstvoll. „Um Gotteswillen, Papa, was ist
Gewiss, es war nicht recht von Mama, dass sie Onkel Fritz so pl® z ^
hereinbrachte. Aber sie hat es doch so gut gemeint! Sie wolU e ^

eine Freude machen! Und nun . . . der Landrath und die Gräfin und • (
sind ganz ausser sich. Sie wollen gehen, und es war doch so s\

Das erste Mal, dass wir nach so langer Zeit . . .“ [Fonsetzung fo 1«'!
 
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