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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 1 - No. 14 (1. Januar - 31. Januar)
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Heidelberger Lamilienblätter.

Mittwoch/ den 1. Januar

1868.

Poste restante.
Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody. —

1. Ein nächtliches Ereigniß.

Es war in der Abenddämmerung eines trü-
ben, windigen Herbſttages, als ich die Expedition
des Advokaten John Argyll, Esquire, zu Bankville
bei Newyork in deſſen Begleitung verließ, um in
ſeiner Familie den Thee einzunehmen und den Abend
zuzubringen. Rechtskandidat in Mr. Argyll's
advokatoriſchem Geſchäft, wurde ich von ihm und
ſeiner Familie um deßwillen ſehr begünſtigt, weil
mein verſtorbener Vater ein vertrauter Freund
meines Chefs geweſen war. Beide waren als junge
Männer zuſammen und unter gleichartigen Ver-

hältniſſen in's bürgerliche und geſchäftliche Leben

eingetreten, und während der Eine ſtarb, als ihm
das Gluͤck eben zu lächeln begann, war es dem
Andern beſchieden, die Früchte ſeines Strebens in
Wer. und fort zunehmendem Wohlſtande zu genießen.
r
einzigen Sohn ſeines hingeſchiedenen Freundes zu
intereſſiren; er leiſtete meiner Mutter Beiſtand, da-
mit ich eine gute Erziehung erhalten und die Uni-
verſität beſuchen konnte, und nahm mich dann auf
ſein Bureau, um meine Ausbildung in der Rechts-
wiſſenſchaft zu vollenden.
Obſchon ich nicht in ſeinem Hauſe wohnte, wurde
ich doch wie ein Mitglied ſeiner Familie behandelt
und fand immer einen Platz an ſeinem Tiſche,‚
mit der Freiheit, zu kommen und zu gehen, wie
mir's gefiel. Der Tag, von dem oben die Rede,
war ein Sonnabend, an welchem ich mit ihm in
ſeiner Wohnung erwartet wurde, um den Sonntag
über da zu bleiben. Wir beſchleunigten unſere
Schritte, als einzelne ſchwere Regentropfen aus
dem dunkeln Gewölk herabfielen. „Es wird eine
ſehr regneriſche Nacht werden,“ ſagte Mr. Argyll. —
„O, vielleicht klärt ſich der Himmel noch auf,“ er-
wiederte ich, nach einer Wolkenöffnung im Weſten
blickend, durch welche die untergehende. Sonne
einen dunkelrothen Strahl niederſandte. Mein Chef
ſchüttelte jedoch zweifelnd den Kopf, und wir eilten
ſeinem Hauſe zu, um dem Naßwerden noch rechtzeitig
4 zu entgehen.

mand anweſend, als Jumee den Neffen Mr. Ar-

Argyll hörte indeß nie auf, ſich für den
ihres Seidenkleides die Treppe herab, und meine

ſich dieß ein;

len ihrer Halskette blitzten wie Thautropfen
In's Wohnzimmer eintretend fanden wir Nie-

Buſen trug, irorne ihren zarten Duft a aus

gyll's, einen jungen Mann etwa meines Alters, der
ſich müßig auf einem Sopha dehnte. „Wo ſind die
Mädchen?“ fragte der Hausherr. — „Sie ſind noch
nicht aus den obern Regionen herabgekommen,
Onkel!“ erwiederte James mit ſcherzendem Pathos.
„Kleiden ſich wieder wie zu einem Staatsge-
ſchäfte, vermuthe ich; — ah, jetzt fällt mirs ein
warum, es iſt ja Sonnabend!“ rief Mr. Argyll
lächelnd und begab ſich nach dem Bibllother-
zimmer.
Ich ſetzte mich an das weſtliche Fenſter und
blickte hinaus nach dem herannahenden Sturme,
denn an einer Unterhaltung mit dem Neffen lag
mir wenig; ich hatte weder eine beſondere Neigung
für ihn, noch er für mich, und obſchon das Schick-
ſal uns zu öfterem Begegnen beſtimmt hatte, gin-
gen doch unſere Richtungen ſehr auseinander. An
dieſem Abend jedoch war James in beſonders hei-
terer Stimmung und fuhr trotz meiner lakoniſchen
Entgegnungen fort, zu mir über alle möglichen
gleichgültigen Dinge zu ſprechen. Im Stillen
war ich aber einzig geſpannt auf das Erſcheinen
Eleanor's, der älteren von beiden Töchtern Mr.
Argyll's.
Endlich kam ſie; ich horte das Rauſchen
Augen hafteten auf ihr, als ſie in's Zimmer trat.
Sie war mit gewohnter Sorgfalt und Eleganz
gekleidet, auf ihrem Antlitz leuchtete ein erwar-
tungsvolles Lächeln, aber dieß Lächeln war für
keinen von uns Beiden. Vielleicht bildete James
ich dachte daran mit tief verborgener
Qual, die ich vergebens zu bekämpfen ſuchte.
Eleanor ſprach freundlich mit mir wie mit
ihm, aber ihre Seele war offenbar nicht bei uns.
Zu unruhig, um ſitzen zu können, durchſchritt ſie
das Zimmer, wobei ein leiſes Lächeln ihre Lip-
pen umſpielte und ſie von Zeit zu Zeit ein Lied-
chen trällerte, als wiſſe ſie gar nicht, daß ſie beob-
achtet werde. Sie hatte ein Recht, heiter zu ſein,
denn ſie war glücklich und in der vollſten Blüte
ihrer Schönheit.
Dann trat ſie an's Fenſter, dicht neben mich,
gerade als die ſcheidende Sonne noch einmal durch

[den ſchwarzen Wolkenſchleier brach und ihre ahr
ihr-

ſtalt mit einer goldenen Atmoſphäre umgab:
dunkles Haar ſchimmerte in purpurnen Tinten, ihre
reinen Wangen waren roſig gefärbt, und die Per-

weißen Blüten. Eine rothe Roſe, welche ſis
 
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