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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 105 - No. 117 (2. September - 30. September)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43665#0443

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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

109.

Freitag, den 11. September

1868.

Eine Pfandhausſcene

Nach Charles Deslys.

(Fortſetzung.)

V.
„Ein Monat ſpäter war mein Geburtstag.
„Sieh, mein Freund,“ ſagte Gertrude zu mir,
ich habe nur dies, aber ich gebe s von ganzem
Herzen.“
„Es war die Uhr, die ſie mir wieder ſchenkte.
„Auch ihr Geburtstag kam drei Monate ſpäter,
und nun wanderte die Uhr wieder aus meiner
Hand in die ihrige. Dann ging ſie zum dritten
Male auf mich über, und ſo an allen fünfzig Ge-
burtstagen, die wir mit einander erlebten, im ſteten
Wechſel zwiſchen mir und ihr. Und glauben Sie
mir, mein Herr, dieſes ewige Hin- und Hergeben,
dieſer zweimalige Austauſch alle Jahre, dieſe ver-
ſchenkte und wieder empfangene Uhr wurde mit
größerer Freude und innigerem Glücke gegeben und
empfangen, als die reichſten Geſchenke unter den
Großen der Erde je gegeben und empfangen wor-
den ſind. Ermeſſen Sie daraus, was mir.
was uns an dieſer Uhr gelegen iſt. Sie gehört
uns Beiden, ſie gehört hundertmal mir und ihr.“
„Und doch iſt ſie nun hier? ...“
„Dies wundert Sie, mein Herr? ... Hören
Sie mir noch zwei Minuten zu, und es wird Sie
dann nicht mehr wundern.
„Eines Tages wurde Gertrude krank. Eine
lange, grauſame Krankheit, die bei der ſchnellen
Erſchöpfung unſerer Kaſſe bald die bitterſte Noth,
das eutſetzlichſte Elend in ihrem Gefolge hatte. So
ſaß ich am Lager meiner ſterbenden Frau, voll Ver-
zweiflung und ohne einen Sou zur Beſtreitung
der Medicamente, die mein armes Weib vielleicht
noch dem Tode entreißen konnten. ö
„Die Uhr lag vor mir, .
Thränen ſchlummernden Augen.
„Ich zauderte lange, denn damals gehörte die
Uhr gerade meiner Gertrude. ö
„Endlich nahm ich ſie und ging damit fort;
aber dreimal kehrte ich an der Thüre des Leihhau-
ſes wieder um.

„Ach, es war ein zu harter Gang. Aber es

mußte geſchehen .. .. Man lieh mir 40 Francs
auf mein koſtbares Pfand.

. . vor meinen in

„Und Gertrude wurde gerettet. Aber welche
Scene, als ich ihr nun nach hundert Ausreden und
hundert Lügen endlich die traurige Wahrheit ge-
ſtehen mußte! Sie wurde purpurroth vor Ent-
ruüſtung.
„Ach, lieber wäre ich geſtorben!“ rief ſie ganz
außer ſich.
„Und ich, Gertrude? .. . Was wäre ich ohne
dich?“ erwiederte ich zärtlich und drückte ſie an
mein Herz.
„Sie weinte lange an meiner Bruſt, und zuletzt
weinte ich mit ihr. ö
„Tröſte dich, meine Gute,“ — ſagte ich end-
lich ſo ſanft und innig, wie einſt mein Vater zu
mir ſprach, wenn er mich tröſten wollte. „Nun

biſt du wieder auf den Beinen, biſt wieder friſch

und munter und ich kann wieder arbeiten Tag und
Nacht, um dir deine Uhr zurückzugeben.“
„Und für wie viel iſt ſie dort?“ frug ſie mich.
„Für vierzig Francs,“ flüſterte ich, denn ich
wußte, daß dieſe Summe die Aermſte entſetzen
würde.
„Und ſo war es auch. Gertrude erſchrak, bald
aber rief ſie entſchloſſen: „Nun gut, wir müſſen
Tag und Nacht ohne Raſt und ohne Ruhe ar-
beiten und ſchaffen, bis wir das Geld beiſammen
haben.“
„Und wir bielten Wort, mein Herr, wir haben
uns Beide bei Gott nicht geſchont .... Und doch
iſt die Uhr noch hier! . . . Und ſeitdem ſind es
fünfzehn Jahre! .... Ja, mein Herr, fünfzehn
Jahre, während welcher ich an Zinſen nahezu fünf-
mal die Summe bezahlte, die ich zur Rettung Ger-
trudens entlehnte.
„Das iſt fürchterlich, nicht wahr? Aber den-
noch iſt es ſo. Immer mußten wir den Pfand-
zettel umſchreiben laſſen, denn wir konnten nie ge-
nug zuſammen bringen, um unſere Uhr auszu-
löſen. ö
Dazu brauchten wir fünfzig Francs. Oft reich-
ten unſere Erſparniſſe ganz nahe daran hin, aber
immer kam wieder etwas dazwiſchen. Eine Krank-
heit, ein plötzlicher Mangel an Arbeit, ein Umzug
zu dem man uns zwang, ein ſtrenger Winter, in
welchem Alles im Preiſe ſtieg, oder auch unglückliche
Nachbarn, denen wir ein Darlehen nicht verſagen

konnten, welches man uns nie zurückgab, dies wa-

renedie unvorhergeſehenen Vorkommniſſe, die uns
 
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