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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 66 - No. 76 (3. Juni - 28. Juni)
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hHeidelberger Familienblätter.

Belletriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

X 75.

Mittwoch, den 24. Juni

1868.

Eine grauenhafte Eiſenbahnfahrt.
(Schluß.) ö

Ich war ſtarr vor Entſetzen und nicht im
Stande ein Wort erwiedern zu können. Mit ſtie-
ren Blicken ſah ich meinen Reiſegefährten an, und
ich fühlte, wie das Haar ſich auf meinem Haupte
ſträubte. — ö ö ö
„Sie verlangen nun wohl zu wiſſen, wie ich
hierher komme“, frug der Irre nach einer kleinen
Pauſe. „Ich nahm den Mantel und den Hut des
Arztes: das Holzgitter, welches den Garten be-
grenzte, hatte ich zertrümmert, um die Leiche auf
die Schienen werfen zu können, mein Weg war
aber frei und ich eilte ſomit nach dem Stations-
gebände, wo der Zug zur Abfahrt bereit ſtand.
Die Leute auf den Straßen blickten mir zwar nach,
doch ich ſtörte mich nicht daran — hatte ich doch
jenes verhaßte Haus hinter mir. Ich miſchte mich
unter die Reiſenden, löſte ein Billet und bezahlte
es mit dem Golde des Doctors. Doch es war
Blut an dem Gelde, vergeblich verſuchte ich daſſelbe
wegzuwiſchen — es kam immer wieder zum Vor-
ſchein. Ich fürchtete, daß man es bemerken würde,
dies geſchah jedoch nicht; ich ſtieg in dieſen Wagen,
der Zug brauſte davon und ich bin frei, frei! Nun
beantworten Sie mir die Frage: Glauben Sie wirk-
lich, daß ich wahnſinnig bin?“ ö
Der Fragende näherte ſein Geſicht dem meini-
gen und der unheimliche Glanz ſeiner Augen leuch-
tete phosphorartig durch die Dunkelheit, welche all-
mälig herangebrochen war. Der ruhige, erzählende
Ton, in dem der Wahnſinnige bisher geſprochen,
war einer großen Erregtheit gewichen, und während
ich mich bemühte, eine Antwort zu geben, wieder-
holte er mehrmals läſtig ſeine Frage. —
„Ja“, ſtotterte ich endlich mit zitternden Lippen,
„ich glaube, daß Sie wahnſinnig ſind.“ð ö
„Ich werde es Ihnen beweiſen“, flüſterte der
Irre, ein leiſes Lachen unterdrückend. „Und wie
glauben Sie, daß ich es Ihnen beweiſen werde?“
fuhr er fort, indem er mit krampfhaftem Griffe
meine Hand erfaßte. *
Ich war vor Entſetzen faſt gelähmt und ver-
mochte nur mit dem Kopfe zu ſchütteln.
„Indem ich Sie ermorde, wie ich Jenen er-

mordet habe!“ ſchrie der Wahnſinnige mit krei-
ſchender Stimme. „Glauben Sie wirklich, ich
würde Sie leben laſſen, jetzt, nachdem Sie mein
Geheimniß kennen? — ich würde Sie leben laſſen,
damit Sie mich verrathen und mam mich wieder
nach jenem ſchrecklichen Hauſe zurückbringt! Nein!
Nein! Die Wahnſinnigen ſind ſchlau, ſind ſtark!“
Ich ſah ein, daß mit Gewalt hier nichts zu
erzielen war, da der Irre mich leicht überwältigen
konnte, und die einzige Hilfe, welche mir blieb,
war, den Wahnſinnigen auf andere Gedanken zu
bringen.
„Halt!“ rief ich, indem ich ihn mit durchboh-
renden Blicken betrachtete. „Ich finde es in der
Ordnung, wenn Sie mich tödten, doch ſollten Sie

mir zuvor Ihre Geſchichte zu Ende erzählen.“

„Das iſt wahr, Sie haben Recht!“ rief der
Irre ſich beſinnend. „Doch ich habe Alles erzählt
und Nichts vergeſſen.“ ö
„Was hatte Lord Palmerſton und die Treff-
Dame mit Ihrem Wahnſinn zu thun?“
Es war inzwiſchen vollſtändig finſter geworden
und nur die kleine Laͤmpe, welche an der Decke des
Coupes angebracht war, verbreitete ein ſchwaches
Licht umher. Ich wußte, daß wir London bald er-
reichen mußten und meine einzige Rettung beſtand
darin, die Erzählung des Wahnſinnigen bis zu un-
ſerer Ankunft andauern zu laſſen. —
„Ja,“ ſagte der Fremde in faſt wehmüthigem
Tone: „Mit Lord Palmerſton fing es an und die
Treff⸗Dame brachte es zu Ende... ö
„Sie kannten ſomit Lord Palmerſton“, frug ich.
„Ob ich ihn kannte?“ rief der Irre entrüſtet.

„Er iſt auf einem meiner Güter geboren und auf-

erzogen. Ich liebte ihn, als ob er mein eigenes
Kind wäre, ja mehr noch, denn wenn ich je ein
Kind gehabt hätte, ſo hätte ich es erwürgt, ermor-
det, Herr!“ ö
Abermals ruhten die Augen des Wahnſinnigen
mit ſchrecklichem Ausdruck auf mir und ſeine mage-
ren Finger bewegten ſich krampfhaft, als wollten
ſie meine Kehle erfaſſen. —
„Hat Lord Palmerſton Ihnen ein Unrecht zu-
gefügt?“ frug ich mit bebender Stimme.
Eer verlor, Herr! Er verlor!“ ſchrie der Irre,
indem er von ſeinem Sitze aufſprang; „ich hatte
mein halbes Vermögen auf ihn gewettet; doch es
 
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