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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 53 - No. 65 (3. Mai - 31. Mai)
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ö Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 56.

Freitag, den 8. Mai

1868.

Das Schloß an der Weſer.
Eine wahrhafte Geſchichte von Eliſe Polko.

Schluß.);
Am heiligen Abend war es, als ein einſamer
Wanderer den Weg nach dem alten Schloſſe an
der Weſer einſchlug. Er hatte in ſeiner Ungeduld
den Abgang der Poſt von M. nicht abgewartet und
war ihr vorausgeeilt. Sie ſollte ihm ſein Gepäck
nachbringen. Wie oft hatte er dieſen Weg zurück-
gelegt, als er noch ein Knabe war, und immer voll
Freude und Erwartung. Er kehrte ja in die ge-
liebte Heimath zurück! Jeden Baum am Wege, jeden
ſchmalen Seitenpfad, jeden Stein faſt kannte er.
Erregter und fieberhafter aber als heute war er
niemals hier gewandert. Es war ja Weihnacht!
Da mußte wohl Jeder, der noch ſo glücklich war,
ein „Heim“ zu haben, eilen, nach Hauſe zu kom-
men. Nie hat dieſes holdeſte aller Worte, „heim“,
einen füßeren Klang, als am Chriſtabend. Nie ge-

denken wir dankbarer der Todten und der Lebenden.

Die Erinnerung an das helle Weihnachtslicht er-
wärmt das ſtarreſte Herz, es widerſteht kein Eis
der Selbſtſucht auf Erden den erwärmenden Strah-
len des Lichterbaums, und wenn es eine Zeit gibt,
in der wir geneigt ſind, Opfer zu bringen, ſo ſind

es jene gebenedeiten Tage, die uns an die höchſte

aller Liebesgaben und an die opferwillige, ſüße El-
ternliebe erinnern. Und Werner, der eilende Wan-
derer, gedachte des ſchlafenden Vaters, der treuen,
zaͤrtlichen Mutter, und ein heißer Strom der Liebe
ging durch ſein Herz. Dann flogen die Gedanken
in das alte Schloß: er ſah den Weihnachtsbaum
mit dem Wachsengel, er ſah die heitern Geſichter
lieber Menſchen, Gertrud's freundliche Geſtalt er-
ſchien ihm und ſtrahlend, funkelnd, lachend wie im-
mer tanzte Elſe um den Baum. Und dann wieder
hörte er ihre ſüße Stimme, wie ſie ſang:
„Vom Himmel hoch da komm' ich her “—
Wie ſah es heute wohl im alten Schloſſe aus?!
So lang war ihm der Weg noch nie erſchienen!
Beinahe hätte er, um raſcher von der Stelle zu
kommen, eine Extrapoſt angerufen, die ſchnell an
ihm vorüber brauſte, aber ehe er ſich beſann, war
ihm der Wagen ſchon aus den Augen. Wie wird

ihn Gertrud empfangen nach jenem Briefe aus
Sorrent?! Und Elſe, die Heißgeliebte ?1So mu-
thig war er ausgewandert von M., und je naͤher
er dem Ziele ſeiner Wanderung kam, deſto zaghaf-
ter wurde ihm zu Sinn. Eine ungeheure Bangig-
keit legte ſich wie eine kalte Hand auf ſein Herz.
Sie wich erſt, als die hellen Fenſter ihm vor den
Augen aufflammten. Die hellen Fenſter: die Weih-
nachtsfenſter im Schloſſe! Mit einem Sprunge ſtand
er auf der Treppe und ſtürmte hinauf. Der be-
rauſchende, bekannte Weihnachtsgeruch, das ſüßeſte
Parfüm der Welt, wallte ihm entgegen, ein Gewirr
von Stimmen ſchlug an ſein Ohr. Heftig klopfte
ſein Herz, er rang nach Athem. Leiſe drückte er
die Thür auf. Der Lichterglanz blendete ſeine
Augen. Erſt nach und nach unterſchied er die
wohlbekannten Geſtalten ſeiner Mutter und ihrer
Freunde — da ſtand auch Gertrud! Wie ſie blaß
ausſah — die vollen Wangen waren ſchmal gewor-
den. Ein Stich ging ihm durch's Herz bei dieſem

Anblick. Aber wo war Elſe? Angſtvoll ſuchten

ſeine Augen nach ihr. Da — in dem Erker des
Fenſters ſtand ein Seſſel — und dort ſaß ſie leuch-
tend und wunderſchön wie noch nie und mit einem
Lächeln des Glücks, als ob man ihr eine Welt ge-
ſchenkt. Und neben ihr, über ſie hingeneigt, ſtand
ein junger, ſchlanker Mann und die Augen Elſe's
begegneten eben den ſeinen. Mit zitternder Hand
ſtieß Werner jetzt. die Thür auf. Ein Schrei be-
grüßte ihn. Gertrud ſtürzte auf ihn zu. Aber
mitten, auf dem Wege blieb ſie ſtehen — ihre Arme
ſanken herab — ſie neigte heißerröthend den Kopf.
Die Pfarrerin umſchlang jubelnd den Sohn. Fröh-
liche Stimmen riefen ihm ein „Willkommen“ zu.
Und wie im Traum hörte er die Worte: „Du kamſt
zur guten Stunde, um das ſchönſte Weihnachtsfeſt
zu feiern, morgen früh wird unſere Prinzeſſin eine
wirkliche Prinzeſſin, Elſe iſt Braut. Bringe ihr
Deinen Glückwunſch.“ ö
Und er trat zu ihr hin, die ihm lächelnd die
Hand entgegenſtreckte und redete Worte ohne Sinn,
während draußen die Glocken der alten Kirche läu-
teten und die Kinder auf der Straße ſangen:
„Vom Himmel hoch da komm' ich her
Und bring' Euch eine frohe Mähr!“
Und dann fühlte er eine kleine heiße zitternde
Hand in der ſeinen — die Hand Gertrudꝰs.
VVerzeihe ihr,“ flüſterte ſie, „ich will Dir ſpä-
 
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