Heidelberger Familienblätter.
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
I. 74. Sonntag,
den 21. Juni
1868.
Eine gratenhafte Eiſenbahnfahrt.
Es mögen ungefähr zehn Jahre her ſein, als
ich mich eines Abends auf dem Perron der Sta-
tion Hamptencourt befand und den Zug erwartete,
welcher mich nach London bringen ſollte. Als der-
ſelbe angelangt war, ſtieg ich in ein Coupe, und in
demſelben Augenblick, als der Schaffner den Wagen
ſchließen wollte, drängte ſich ein langer, hagerer
Mann, welcher in einen Mantel gehüllt war, her-
an, und warf ſich, ein kurzes, heiſeres Lachen aus-
ſtoßend, in eine Ecke deſſelben Coupes. Das Zei-
chen zur Abfahrt wurde gegeben und der Zug
brauſte von dannen.
„Glauben Sie, daß ich wahnſinnig bin? Sehe
ich wie ein Wahnſinniger aus?“ frug plötzlich mein
Reiſegefährte in flüſterndem Tone, indem er näher
zu mir heranrückte. ö —
Verwundert blickte ich auf und gewahrte, wie
die Augen des Mannes mit einem eigenthümlichen
Ausdruck auf mir ruhten.
„Aber ich bin wahnſinnig, unheilbar wahn-
ſinnig“, fuhr dieſer vertraulich meine Hand erfaf-
ſend, fort.“
„Ich bin wirklich nicht zu Scherzen geſtimmt,
mein Herr,“ ſagte ich, indem ich meine Hand von
ſeinem Griffe befreite. Trotz jener Worte, welche
ich mich ſo ruhig wie möglich zu ſchrecken bemühte,
hatte das ſeltſame Weſen meines Gefährten mich
dennoch erſchreckt, und ich hoffte, durch den ziemlich
barſchen Ton, welchen ich annahm, der Unterhal-
tung ein Ende zu machen. ö
„„Ja, ich bin unheilbar wahnſinnig und erſt
ſeit einer halben Stunde aus dem Irrenhauſe ent-
ſprungen,“ fuhr der Fremde fort, indem er ſich
den Anſchein gab, meine Worte überhört zu haben,
„und ſoll ich Ihnen erzählen, wie mir dies ge-
lang?“ ö ö
Ich gab keine Antwort, ſondern blickte zum
Fenſter des Coupes hinaus, auch ſchien der Fremde
keine Antwort zu erwarten, denn ohne mir Zeit zu
einer ſolchen zu laſſen, fuhr er fort:
»Ich war nicht immer wahnſinnig, auch weiß
ich im Augenblick nicht mehr genau, was mich dazu
trieb, doch erinnere ich mich deutlich, daß Lord
Palmerſton und die Treff⸗Dame große Schuld da-
von tragen. Doch das thut nichts zur Sache. Ich
war reich und hatte ein ſchönes Haus, Garten,
Pferde, Bediente und eine junge, ſchöne Frau. —
Niemand weiß, wie ſehr ich dieſe Frau liebte, und
doch hatte ich nur einen Wunſch — ſie zu ermor-
den! War das nicht ſpaßig, Herr?“
„Wenn es Ihnen darum zu thun iſt, eine Un-
terhaltung anzuknüpfen,“ ſagte ich mik lautpochen-
dem Herzen, „ſo würde ich ein angenehmeres Thema
vorſchlagen.“ ö
„Ein angenehmeres Thema?“ frug der Fremde
erſtaunt, „gibt es etwas Heitereres, als das, was
ich Ihnen erzählen will? Hören Sie nur weiter.
Es dauerte lange, ehe man meinen Wahnſinn ent-
deckte, denn ich wußte mich gar ſchlau zu verſtellen.
Doch ich ſelbſt kannte meinen Zuſtand genau, denn
überall ſah ich Geſtalten, welche mich verfolgten,
aus den Tapeten der Wände, aus den Blättern der
Büſche und Bäume grinſten mir verzerrte Geſichter
entgegen und doch wußte ich, daß es Täuſchung ſei,
ich wußte, daß ich wahnſinnig war. Trotz meiner
Vorſicht wurde mein Irrſinn entdeckt und eines
Tages wurde ich von zwei Männern in meinem
eigenen Garten angefallen und in's Irrenhaus ge-
bracht! O, welch trauriger, öder Ort war jenes
Haus. Man ſperrte mich in eine Zelle, in die das
Licht nur durch ein kleines, hochangebrachtes und
mit Eiſenſtäben vergittertes Fenſter, wie durch die
Rippen eines Skelettes drang, und in jeder Nacht
erblickte ich auf dem Simſe jenes Fenſters eine ver-
wachſene Geſtalt, welche, vom Lichte des Mondes
beleuchtet, mich verhöhnte. Es war eine Höllen-
qual, Herr, und in einer Nacht, als ich es nicht
länger ertragen konnte, ſtürzte ich mich auf jene
Geſtalt, ich kämpfte mit ihr, bis ſie unterlag; da
ſtürzten die Wärter in die Zelle und banden mich
mit Stricken auf mein Bett feſt. Ich hörte, wie
ſie einander zuflüſterten, daß ich mich ſelbſt habe
umbringen wollen, doch es war nur jene teufliſche
Geſtalt, welche ich morden wollte, und dies war
mir auch gelungen, denn in der folgenden Nacht
war ſie verſchwunden. Wochen, Monate vergingen
und ich beſchloß, aus dem Irrenhauſe zu entfliehen.
Und wie glauben Sie, daß ich dies anfͤing? Ich
ſtellte mich geheilt. Alltäglich kam der Arzt der
Anſtalt zu mir; ich hörte deutlich, wie die Thüren
der anderen Zellen ſich öffneten und ſchloſſen, und
war ſomit immer darauf vorbereitet, wenn er zu
mir kam. Ich mußte ihn zu täuſchen ſuchen und
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
I. 74. Sonntag,
den 21. Juni
1868.
Eine gratenhafte Eiſenbahnfahrt.
Es mögen ungefähr zehn Jahre her ſein, als
ich mich eines Abends auf dem Perron der Sta-
tion Hamptencourt befand und den Zug erwartete,
welcher mich nach London bringen ſollte. Als der-
ſelbe angelangt war, ſtieg ich in ein Coupe, und in
demſelben Augenblick, als der Schaffner den Wagen
ſchließen wollte, drängte ſich ein langer, hagerer
Mann, welcher in einen Mantel gehüllt war, her-
an, und warf ſich, ein kurzes, heiſeres Lachen aus-
ſtoßend, in eine Ecke deſſelben Coupes. Das Zei-
chen zur Abfahrt wurde gegeben und der Zug
brauſte von dannen.
„Glauben Sie, daß ich wahnſinnig bin? Sehe
ich wie ein Wahnſinniger aus?“ frug plötzlich mein
Reiſegefährte in flüſterndem Tone, indem er näher
zu mir heranrückte. ö —
Verwundert blickte ich auf und gewahrte, wie
die Augen des Mannes mit einem eigenthümlichen
Ausdruck auf mir ruhten.
„Aber ich bin wahnſinnig, unheilbar wahn-
ſinnig“, fuhr dieſer vertraulich meine Hand erfaf-
ſend, fort.“
„Ich bin wirklich nicht zu Scherzen geſtimmt,
mein Herr,“ ſagte ich, indem ich meine Hand von
ſeinem Griffe befreite. Trotz jener Worte, welche
ich mich ſo ruhig wie möglich zu ſchrecken bemühte,
hatte das ſeltſame Weſen meines Gefährten mich
dennoch erſchreckt, und ich hoffte, durch den ziemlich
barſchen Ton, welchen ich annahm, der Unterhal-
tung ein Ende zu machen. ö
„„Ja, ich bin unheilbar wahnſinnig und erſt
ſeit einer halben Stunde aus dem Irrenhauſe ent-
ſprungen,“ fuhr der Fremde fort, indem er ſich
den Anſchein gab, meine Worte überhört zu haben,
„und ſoll ich Ihnen erzählen, wie mir dies ge-
lang?“ ö ö
Ich gab keine Antwort, ſondern blickte zum
Fenſter des Coupes hinaus, auch ſchien der Fremde
keine Antwort zu erwarten, denn ohne mir Zeit zu
einer ſolchen zu laſſen, fuhr er fort:
»Ich war nicht immer wahnſinnig, auch weiß
ich im Augenblick nicht mehr genau, was mich dazu
trieb, doch erinnere ich mich deutlich, daß Lord
Palmerſton und die Treff⸗Dame große Schuld da-
von tragen. Doch das thut nichts zur Sache. Ich
war reich und hatte ein ſchönes Haus, Garten,
Pferde, Bediente und eine junge, ſchöne Frau. —
Niemand weiß, wie ſehr ich dieſe Frau liebte, und
doch hatte ich nur einen Wunſch — ſie zu ermor-
den! War das nicht ſpaßig, Herr?“
„Wenn es Ihnen darum zu thun iſt, eine Un-
terhaltung anzuknüpfen,“ ſagte ich mik lautpochen-
dem Herzen, „ſo würde ich ein angenehmeres Thema
vorſchlagen.“ ö
„Ein angenehmeres Thema?“ frug der Fremde
erſtaunt, „gibt es etwas Heitereres, als das, was
ich Ihnen erzählen will? Hören Sie nur weiter.
Es dauerte lange, ehe man meinen Wahnſinn ent-
deckte, denn ich wußte mich gar ſchlau zu verſtellen.
Doch ich ſelbſt kannte meinen Zuſtand genau, denn
überall ſah ich Geſtalten, welche mich verfolgten,
aus den Tapeten der Wände, aus den Blättern der
Büſche und Bäume grinſten mir verzerrte Geſichter
entgegen und doch wußte ich, daß es Täuſchung ſei,
ich wußte, daß ich wahnſinnig war. Trotz meiner
Vorſicht wurde mein Irrſinn entdeckt und eines
Tages wurde ich von zwei Männern in meinem
eigenen Garten angefallen und in's Irrenhaus ge-
bracht! O, welch trauriger, öder Ort war jenes
Haus. Man ſperrte mich in eine Zelle, in die das
Licht nur durch ein kleines, hochangebrachtes und
mit Eiſenſtäben vergittertes Fenſter, wie durch die
Rippen eines Skelettes drang, und in jeder Nacht
erblickte ich auf dem Simſe jenes Fenſters eine ver-
wachſene Geſtalt, welche, vom Lichte des Mondes
beleuchtet, mich verhöhnte. Es war eine Höllen-
qual, Herr, und in einer Nacht, als ich es nicht
länger ertragen konnte, ſtürzte ich mich auf jene
Geſtalt, ich kämpfte mit ihr, bis ſie unterlag; da
ſtürzten die Wärter in die Zelle und banden mich
mit Stricken auf mein Bett feſt. Ich hörte, wie
ſie einander zuflüſterten, daß ich mich ſelbſt habe
umbringen wollen, doch es war nur jene teufliſche
Geſtalt, welche ich morden wollte, und dies war
mir auch gelungen, denn in der folgenden Nacht
war ſie verſchwunden. Wochen, Monate vergingen
und ich beſchloß, aus dem Irrenhauſe zu entfliehen.
Und wie glauben Sie, daß ich dies anfͤing? Ich
ſtellte mich geheilt. Alltäglich kam der Arzt der
Anſtalt zu mir; ich hörte deutlich, wie die Thüren
der anderen Zellen ſich öffneten und ſchloſſen, und
war ſomit immer darauf vorbereitet, wenn er zu
mir kam. Ich mußte ihn zu täuſchen ſuchen und