Heidelberger Lamilienblätter.
Bellttriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitun
Sonntag, den 22. März
1868.
Die Nachbarn.
(Fortſetzung.)
Sie wandte raſch mit blitzendem Auge den
Kopf nach ihm. „Fühlen Sie nichts für Mary,
Vetter?“ fragte ſie in ernſtem, beſtimmtem Tone.
„Sprechen Sie offen zu mir, wie ich Sie in meine
eigene Lage habe blicken laſſen!“
„Und wenn ich Ihnen nun auch beſtätigte,
was Sie geſtern ſchon errathen, müßte es denn
unſere Lage, Ihrem Vater gegenüber, nicht noch
rathloſer machen? Mary ſelbſt kann in Ihrer Nei-
gung zu ihrem Bruder nirgends ein Heil erblicken
und ſcheint vor einer möglichen Beziehung zwiſchen
mir und ihr zurückzuſchrecken.“
„Und möglicherweiſe würden Sie alſo Ihre
Liebe einem Vorurtheile meines Vaters opfern?“
fragte ſie, während ein bitterer Spott um ihren
Mund zuckte.
Heinrichs Geſicht färbte ſich höher. „Daß ich
nicht einmal das Opfer Ihrer Freiheit geduldet
haben würde, habe ich Ihnen ſchon geſtern bewie-
ſen, und die meinige ſteht mir doch noch etwas
näher,“ erwiederte er; „es handelt ſich hier aber
um etwas ganz Anderes! Ich kann nicht Mr.
Quentin's Vertrauen und gute Abſichten gegen
mich durch einen unläugbaren Betrug vergelten.
Wäre ich in der Angelegenheit allein betheiligt, ſo'
würde ſie durch eine offene, gerade Erklärung er-
ledigt ſein — ſo aber ſpielen Sie, Baſe, eine
Hauptrolle darin und ich habe kein Recht, ein
Wort zu ſprechen, das unmittelbar auf Sie zurück-
wirken müßte. Denken Sie einen Augenblick an
mich, dem nur zwei Wege bleiben: entweder Ihrem
Vater zu ſagen: Pathe, Loo mag mich nicht, und
unter einem Zwange nehme ich keine Frau, —
oder Alles, was ich ſeit geſtern in meiner Harm-
loſigleit zu Mr. Quentin geſprochen, als Lüge
gelten zu laſſen und wieder aus ſeinem Hauſe zu
gehen. —“ ö
Ein raſches Kopfſchütteln des Mädchens unter-
brach ihn. „Sie ſollen vorläufig gar nichts thun,
ſondern nur den Dingen ihren Lauf laſſen — der
Augenblick für eine Erklärung Ihrerſeits wird von
ſelbſt nicht ausbleiben. Wahrſcheinlich iſt es nicht
meine Schuld, daß meines Vaters Vorurtheil einer
Neigung entgegentrat, als dieſe bereits unzerſtör-
bare Wurzeln geſchlagen hatte; wahrſcheinlich iſt
es auch nicht die Ihre, daß Sie unter dem Ein-
fluſſe eines Irrthums meinen Vater in dem Wahne
beſtärkten, ſeine Pläne harmonirten mit Ihren
Wünſchen, und es kann nun wohl ebenſo wenig
von einem Betruge die Rede ſein, wenn Sie jetzt
lieber eine Zeit erwarten, wo vielleicht eine mil-
dere Löſung der Verhältniſſe möglich wird, als daß
Sie, um einer Ungerechtigkeit willen, ſofort Ihr
eigenes Glück und vielleicht das meine dazu auf's
Spiel ſetzen. — Ich kann Ihre Anſchauungsweiſe
verſtehen und würdigen, Henry,“ fuhr ſie fort, ihm
die Hand herüber reichend, „aber folgen Sie mir
und machen Sie ſich jetzt keine unnöthigen Gewiſ-
ſensſkrupel, in die ich Sie doch allein geſtürzt ha-
ben würde..“. ö
Heinrich hätte wohl auch ohne die Unterredung
mit ſeiner Baſe jetzt nicht daran gedacht, ſeine
Worte zu einer That werden zu laſſen, deren Fol-
gen er nach keiner Seite hin abzuſehen vermochte;
es war ihm nur mehr darum zu thun geweſen,
ſeinen Gedanken über den Stand der Dinge einen
Ausdruck zu geben und den kecken Sinn des Mäd-
chens, der ihn Angeſichts der Sachlage faſt beäng-
ſtigte, zu dämpfen. „Sehen Sie denn irgend eine
Moͤglichkeit, Loo, den Sinn Ihres Vaters zu än-
dern?“ fragte er nach einer kurzen Pauſe.
„Ich ſehe nur die abſolute Unmöglichkeit, ihm
zu genügen,“ erwiederte ſie, ernſt in die Weite
blickend, „ſehe nur die Ungerechtigkeit, welche ihn
leitet und mir das natürlichſte Recht zum Wider-
ſtande gibt; weiß nur, daß auch die ſtrengſte An-
forderung an den Gehorſam und die Liebe eines
Kindes ihre Grenze hat, wo für dieſes die Pflicht
der Selbſterhaltung eintritt, und erkenne ſo, daß
eine Aenderung des Sinnes ſeinerſeits eintreten
muß, wenn nicht — doch weiter hinaus zu denken
iſt jetzt noch nicht die Zeit. Vorläufig heißt es:
Nichts übereilen und abwarten! — Jetzt aber laſ-
ſen Sie uns zureiten, dort iſt er!“ ſetzte ſie mit
dem Kopfe nach dem Hauſe deutend hinzu, „wir
haben natürlich nichts als einen Ritt durch die
Umgegend gemacht und ſind deßhalb auch des Fruh-
ſtücks äußerſt bedürftig.“
Heinrich ſah den Vetter unter dem Portico
ſtehen und über die Gegend blicken, und er konnte
Bellttriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitun
Sonntag, den 22. März
1868.
Die Nachbarn.
(Fortſetzung.)
Sie wandte raſch mit blitzendem Auge den
Kopf nach ihm. „Fühlen Sie nichts für Mary,
Vetter?“ fragte ſie in ernſtem, beſtimmtem Tone.
„Sprechen Sie offen zu mir, wie ich Sie in meine
eigene Lage habe blicken laſſen!“
„Und wenn ich Ihnen nun auch beſtätigte,
was Sie geſtern ſchon errathen, müßte es denn
unſere Lage, Ihrem Vater gegenüber, nicht noch
rathloſer machen? Mary ſelbſt kann in Ihrer Nei-
gung zu ihrem Bruder nirgends ein Heil erblicken
und ſcheint vor einer möglichen Beziehung zwiſchen
mir und ihr zurückzuſchrecken.“
„Und möglicherweiſe würden Sie alſo Ihre
Liebe einem Vorurtheile meines Vaters opfern?“
fragte ſie, während ein bitterer Spott um ihren
Mund zuckte.
Heinrichs Geſicht färbte ſich höher. „Daß ich
nicht einmal das Opfer Ihrer Freiheit geduldet
haben würde, habe ich Ihnen ſchon geſtern bewie-
ſen, und die meinige ſteht mir doch noch etwas
näher,“ erwiederte er; „es handelt ſich hier aber
um etwas ganz Anderes! Ich kann nicht Mr.
Quentin's Vertrauen und gute Abſichten gegen
mich durch einen unläugbaren Betrug vergelten.
Wäre ich in der Angelegenheit allein betheiligt, ſo'
würde ſie durch eine offene, gerade Erklärung er-
ledigt ſein — ſo aber ſpielen Sie, Baſe, eine
Hauptrolle darin und ich habe kein Recht, ein
Wort zu ſprechen, das unmittelbar auf Sie zurück-
wirken müßte. Denken Sie einen Augenblick an
mich, dem nur zwei Wege bleiben: entweder Ihrem
Vater zu ſagen: Pathe, Loo mag mich nicht, und
unter einem Zwange nehme ich keine Frau, —
oder Alles, was ich ſeit geſtern in meiner Harm-
loſigleit zu Mr. Quentin geſprochen, als Lüge
gelten zu laſſen und wieder aus ſeinem Hauſe zu
gehen. —“ ö
Ein raſches Kopfſchütteln des Mädchens unter-
brach ihn. „Sie ſollen vorläufig gar nichts thun,
ſondern nur den Dingen ihren Lauf laſſen — der
Augenblick für eine Erklärung Ihrerſeits wird von
ſelbſt nicht ausbleiben. Wahrſcheinlich iſt es nicht
meine Schuld, daß meines Vaters Vorurtheil einer
Neigung entgegentrat, als dieſe bereits unzerſtör-
bare Wurzeln geſchlagen hatte; wahrſcheinlich iſt
es auch nicht die Ihre, daß Sie unter dem Ein-
fluſſe eines Irrthums meinen Vater in dem Wahne
beſtärkten, ſeine Pläne harmonirten mit Ihren
Wünſchen, und es kann nun wohl ebenſo wenig
von einem Betruge die Rede ſein, wenn Sie jetzt
lieber eine Zeit erwarten, wo vielleicht eine mil-
dere Löſung der Verhältniſſe möglich wird, als daß
Sie, um einer Ungerechtigkeit willen, ſofort Ihr
eigenes Glück und vielleicht das meine dazu auf's
Spiel ſetzen. — Ich kann Ihre Anſchauungsweiſe
verſtehen und würdigen, Henry,“ fuhr ſie fort, ihm
die Hand herüber reichend, „aber folgen Sie mir
und machen Sie ſich jetzt keine unnöthigen Gewiſ-
ſensſkrupel, in die ich Sie doch allein geſtürzt ha-
ben würde..“. ö
Heinrich hätte wohl auch ohne die Unterredung
mit ſeiner Baſe jetzt nicht daran gedacht, ſeine
Worte zu einer That werden zu laſſen, deren Fol-
gen er nach keiner Seite hin abzuſehen vermochte;
es war ihm nur mehr darum zu thun geweſen,
ſeinen Gedanken über den Stand der Dinge einen
Ausdruck zu geben und den kecken Sinn des Mäd-
chens, der ihn Angeſichts der Sachlage faſt beäng-
ſtigte, zu dämpfen. „Sehen Sie denn irgend eine
Moͤglichkeit, Loo, den Sinn Ihres Vaters zu än-
dern?“ fragte er nach einer kurzen Pauſe.
„Ich ſehe nur die abſolute Unmöglichkeit, ihm
zu genügen,“ erwiederte ſie, ernſt in die Weite
blickend, „ſehe nur die Ungerechtigkeit, welche ihn
leitet und mir das natürlichſte Recht zum Wider-
ſtande gibt; weiß nur, daß auch die ſtrengſte An-
forderung an den Gehorſam und die Liebe eines
Kindes ihre Grenze hat, wo für dieſes die Pflicht
der Selbſterhaltung eintritt, und erkenne ſo, daß
eine Aenderung des Sinnes ſeinerſeits eintreten
muß, wenn nicht — doch weiter hinaus zu denken
iſt jetzt noch nicht die Zeit. Vorläufig heißt es:
Nichts übereilen und abwarten! — Jetzt aber laſ-
ſen Sie uns zureiten, dort iſt er!“ ſetzte ſie mit
dem Kopfe nach dem Hauſe deutend hinzu, „wir
haben natürlich nichts als einen Ritt durch die
Umgegend gemacht und ſind deßhalb auch des Fruh-
ſtücks äußerſt bedürftig.“
Heinrich ſah den Vetter unter dem Portico
ſtehen und über die Gegend blicken, und er konnte