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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 144 - No. 155 (2. December - 30. December)
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Heidelberger Familienblätter.

* Belletrifiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M. 153.

Mittwoch, den 23. Derember

1868.

Die Wahrheit.

Eine Erzählung.

(Forſſetzung.)
Viertes Capitel.
Souvent femme varie,
Bien fou, qui s'y fie! ö
WwWohin ſoll ich nun meine Schritte lenken?“
fuhr Karl Stillfried in ſeinem Alleingeſpräch fort,
während er ſo daſtand und die Straße auf⸗ und
abſchaute. „Was ſoll ich, da mein Onkel mich
verſtoßen hat und meine Principale mich fortge-
jagt haben, nun beginnen? Je eher ich der Sache
ein Ende mache und ins Irrenhaus komme, deſto
beſſer wird es ſein. Dort habe ich wenigſtens Koſt,
Logis und Bedienung. Dort wird man mich nicht
hinauswerfen, weil ich die Wahrheit ſpreche; im
Gegentheil, je mehr Wahrheit ich ſpreche, deſto län-
ger kann ich darauf rechnen zu bleiben, denn für
deſto verrückter wird man mich halien. Ich lobe
mir daher das Irrenhaus — hoch lebe das Irren-
haus!“ ö
„Ein armer Mann bittet um einen Dreier!“
ſagte in kläglichem Tone ein blaſſer, halbverhun-
gerter Bettler, der picht neben ihn trat. ö

„Ich bin ſelbſt ein armer Mann“, antwortete

Karl in immer mehr zunehmender Ueberreizung.
„Ich bin außer Arbeit.“
„Lieber Mann, ich bin es auch!“
„Es iſt nicht meine Schuld.“
„Und die meinige auch nicht.“

„Ich habe eine Frau und acht Kinder und ſechs

davon liegen an den Maſern.“
„Dann muß ich Euch freilich ſehr bedauern;
aber, aufrichtig geſagt, ich bekomme Furcht, Ihr
ſteckt mich am Ende auch damit an. — Macht lie-
ber, daß Ihr fortkommt!“ rief Karl Stillfried,
indem er dem Bettler eine Silbermünze zuwarf und
ſich dann in das nahe gelegene, ihm wohlbekannte
Gaſthaus zum „Grünen Baum“ begab, wo er ſich
ein Zimmer geben ließ. In dieſem verwahrte er
ſein Packet, um es im Laufe des Nachmittags an
ſeine Beſtimmung zu befördern, und ging mittler-
weile, ſeiner Verlobten einen Beſuch abzuſtatten.
Louiſe war die Nichte einer wohlhabenden Putz-
macherin in der nächſten Straße und muthmaß-
liche Erbin des Ladens, des Geſchäfts und des er-

ſparten Kapitals. Sie war eine kleine niedliche
Perſon mit feiner weißer Haut, roſigen Wangen,
blauen Augen, gelbem Haar, runden vollen For-
men und ſtets ſo gekleidet, daß ſie dem Putzladen
als wandelnde Annonce dienen konnte. Ihre Auf-
gabe war, im Laden zu ſitzen, den Kunden die
neuen Moden vorzulegen und ſie zu unterhalten,
bis ihre Tante aus dem innern Zimmer, in wel-
chem die Arbeiterinnen ſaßen, herbeikam. Sie ver-
ſtand dieſe Aufgabe in ſehr trefflicher Weiſe zu
löſen und beſaß, was ihren Vortheil betraf, durch-
dringenden Scharfblick. In andern waiicher
jedoch war ihre Intelligenz eine ſehr mäßige Und
ihre Bildung eine in der That nur ſehr oberfläch-
liche.
eit ungefähr einem Jahr war ſie mit Karl
Stillfried verlobt, welcher als erſter Commis bei
Schulze, Müller und Meyerheim und als Erbe des
alten reichen Chriſtian Goitlieb Stillfried von Mäd-
chen ihrer Klaſſe als eine gute Eroberung betrach-
tet ward. Louiſe hatte deshalb die Angel nach
ihm ausgeworfen und Karl, der von Natur gut-
müthig und gefällig war, hatte ſehr bald — „an-
gebiſſen“. Der Schauplatz war der Kaufladen der
Herren Schulze, Müller und Meyerheim geweſen,
welchen Louiſe oft beſuchte, um Einkäufe zu machen.
Und nun waren ſie verlobt und die Hochzeit war
el den erſten des nächſtfolgenden Monats feſt-
geſetzt.
Karl war ſo für ſie eingenommen, daß er ihre
perſönliche Erſcheinung für ihr eigentliches Ich
hielt und aus ihren weichen, runden Formen und
blauen Augen auf eine liebreiche Gemüthsart, aus
ihrer phlegmatiſchen Unbeweglichkeit auf Beſtändig-
keit und häuslichen Sinn ſchloß. Er hatte noch
nicht einmal angefangen zu argwohnen, daß alles
das bei ihr weiter nichts bedeutete als Trägheit,
Egoismus und Selbſtſucht. Jetzt war er auf dem
Wege, ihrem, wie er meinte, zärtlichen und treuen
Herzen die große Bedrängniß anzuvertrauen, in
welche er gerathen war. ö
Sie empfing ihn wie gewöhnlich in dem klei-
nen Vorderzimmer über dem Kaufladen, wo ſie
täglich unter Spitzenvorhängen und andern derglei-
chen luftigen und leichten Draperieen ſaß wie eine
hübſche kleine Spinne in einem eleganten kleinen
Netz, um verlockende Putzgegenſtände zur Schau zu
legen und weibliche Fliegen zu umſtricken.
 
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