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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 92 - No. 104 (2. August - 30. August)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 100.

Freitag, den 21. Auguſt

1868.

Franz Alzeyer.

Eine Geſchichte aus den Befreiungskriegen von Paul Heyſe.

(Fortſetzung.)
Mitten in dem Tumult aber ſaß der treue Frei-
heitskämpfer, der kleine Kanarienvogel, ſtill und
ernſthaft auf der Schulter ſeines Herrn und ſchien
nach ſo viel großen Dingen, die er miterlebt und
mit ſeinem Geſang begleitet hatte, jetzt erſt nach-
denklich geworden zu ſein und Angeſichts der hei-
mathlichen Stadtmauern und grauen Thürme wie
vor einem Räthſel zu verſtummen. ö
Sein Herr, der rothe Lutz, ſo friſch und blühend
ſein männliches gereiftes Geſicht unter der Feldmütze
hervorſah, war ebenfalls einer der Stillſten. Er

ſchien ſogar kaum zuzuhören, als die blonde Molly,

an der Spitze der anderen Jugendfräulein mit lieb-

lichem Erröthen einen gereimten Feſtgruß ſprach,‚

worauf jedes der ſchönen Kinder einen der Heim-—
gekehrten bekränzte und der Stadtpfarrer mit einer
kurzen Anſprache ſie ſegnete, die ſo Viel erſtritten
und ſo Großes dem Himmel zu danken hatten. Als
darauf die beiden Züge in bunter Zerſtreuung ſich
durch die Stadt ergoſſen, hatte der junge Lieute-
nant nichts Eiligeres zu thun, als auf ſein Stu-
dentenſtübchen zu gehen, Kränze, Waffen und Mon-
tur abzulegen und in einem unſcheinbaren Civil-
anzug einen Schleichweg zwiſchen Mauer und Gra-
ben einzuſchlagen, der ihn ungeſehen nach dem
Hauſe Franz Alzeyer's führte. Es war ſchon ge-
gen Abend geworden; die Hinterthür, die nach dem

Wall hinaus ging, ſtand der kühleren Luft offen.

Mit Herzklopfen, wie er es vor keiner Schlacht ge-
fühlt, trat er in den Flur, wo die Magd, erſchrocken,
da außer dem alten Franzoſen längſi kein Beſucher
mehr hier vorſprach, von ihrem Spinnrade auf-
ſtarrte und den Faden aus der Hand fallen ließ.
Der Jüngling nickte ihr haſtig zu, legte den Finger
auf den Mund und ſtieg auf den Zehen an ihr
vorbei, die enge alterthümliche Treppe hinauf, wo
er von den Knabenſpielen her jeden Winkel kannte.
Auf dem Abſatz des erſten Geſchoſſes ſtand er ſtill,
denn er hörte ein tiefes Athmen aus der mittleren
Stube, die einſt das Familienzimmer geweſen war.
Auch hier war die Thür, der Hitze wegen, halb
offen, er konnte ſchon von der Treppe aus ein großes

Stück des inneren Raumes überſehen. Da ſah er
den Meiſter Franz am Tiſche ſitzen, vor ihm ein
halbes Dutzend leerer Weinflaſchen und eine halb-
gefüllte, aus der ſich eben Monſieur Tourbillon
ſein Glas von Neuem voll ſchenkte. Er dampfte
dazu aus einem großen Meerſchaumkopf und ſah
mit gläſernem dummtrotzigem Blick in den blauen
Rauch. Der Meiſter aber, der, wie ſonſt nur an
hohen Feſttagen, heute die franzöſiſche Uniform trug,
hatte die Hand mit der Pfeife auf den Tiſch gelegt,
die andere Hand hielt mechaniſch das Glas noch
feſt, das Geſicht aber war auf die Bruſt geſunken,
und ſchwere Athemzüge ließen erkennen, daß er end-
lich ſeine Abſicht erreicht und ſich für den Feſtjubel
ſeiner Mitbürger draußen auf einige Stunden taub
gemacht hatte. ö
Den Jüngling, der auf dem Treppenflur ſtand,
überlief es ſchauerlich, dieſem Schlafenden gegen-
über. Er ſeufzte tief auf und mußte ſich eine
Weile ſammeln, ehe er vorbei konnte. Dann ſtieg
er weiter, bis zu der Kammer hinauf, in der das
ſchöne Käthchen ſeine unſchuldige Jugend verlebt
hatte. Und wieder mußte er ſtehen und ſein Herz-
klopfen bemeiſtern, ehe er Athem und Muth gewann,
das ſauerſte Stück des Weges, die Stiege zu der
Manſarde, hinanzuklimmen.
Nun ſtand er endlich oben und hörte, daß es
ganz ſtill drinnen war, und hundert bange Gedanken
ſchoſſen ihm durch den Kopf. Als er dann aber
die Thür öffnete und über die Schwelle trat, ſtand
der lange Fritz mitten im Zimmer, dem Eintreten-
den zugekehrt, als habe er ihn längſt erwartet, und
ſagte mit einer ſtillen Stimme: Guten Abend, Lutz!
Es iſt ſchön von dir, daß du kommſt, ich habe es
wohl gewußt, — und hielt ihm dabei die Hand
hin, ohne ſich vom Fleck zu rühren. Dem Lutz fiel
ein Stein vom Herzen, aber freilich vergaß er über
dem Erſtaunen, daß er ihn ſo ruhig fand, alles
was er ſich zu ſagen vorgenommen hatte, um ihn
zu beruhigen; und ſo nahm er ſchweigend die Hand
des Schweigenden in ſeine Hände und drückte ſie,
als wollte er ſie nie wieder los laſſen, und ſah da-
bei ſeinem alten Kameraden forſchend in's Geſicht.
Da erſchrak er freilich noch tiefer, denn es kam ihm
vor, als würden ihm dieſe wohlbekannten Züge, je
länger er ſie betrachtete, deſto⸗fremder, und er mußte
mit einem tiefen Schauder an das Geſicht eines

Menſchen denken, der einmal ſcheintodt im Sarge
 
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