Heidelberger Zumilienblätter.
Velleniſihe Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Sonntag, den 5. Januar
Poste restante.
Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody.
2. Die verdüchtige Geſtalt.
(Fortſetzung.)
Mr. Argyll's Haus, ein großes,
maſſives Ge-
bäude mit hohen, luftigen Fenſtern und Säulen-
hallen, lag zwar hart am Dorfe, war aber von
10 daf Raſenflächen, Gärten und Park umgeben,
ſo daß es als freier Sommerſitz gelten konnte.
Namentlich umſchatteten es gewaltige Eichen, deren
älteſte und majeſtätiſchſte ich oft bewundert hatte.
Als jetzt mein Blick daranf fiel, bemerkte ich an
verſchiedenen Stellen der knorrigen Rinde friſche
Verletzungen, ohne daß mir dieß jedoch beſonders
auffiel, denn der Sturm hatte ja auch hier entſetz-
lich gewüthet; der Boͤden war ringsum mit herbſt-
lichen Blättern und dürren Zweigen bedeckt und
es war anzunehmen, daß ein herabſtürzender
ſtärkerer Aſt die Abſchürfung der Rinde vexur-
ſacht hatte.
Süße, melodiſche Laute ſchlugen an mein Ohr;
ich blickte- am Hauſe empor und ſah Eleanor am
Fenſter ihres Zimmers ſtehen. Sie ſang für ſich
in leiſen Tönen einen Choral. Dieſe Töne, dieſe
in ſich ruhige, ſchöne Geſtalt waren der Ausdruck
des Friedens, der noch über dem Hauſe waltete,
und ich hatte jetzt die ſchmerzliche Aufgabe, ihn
ſtören zu müſſen, durch Entſetzen das ſtille, ſonn-
tägliche Behagen zu verſcheuchen. Eine ſchwere,
düſtere Wolke nahte dieſem ſonnigen Platze, um
nie mehr von demſelben zu weichen. Durch eine
Säulenhalle in das Bibliothekzimmer eintretend,
bemerkte ich James, zum Kirchgang angekleidet; ſein
Geſangbuch und ein weißes Taſchentuch lagen neben
ihm auf dem Tiſche, während er ſelbſt in einem
wuſt an ſemne zu leſen ſchien. So wenig mir
ſonſt an ſeinem Anblicke lag, dießmal war es mir
eine Art Genugthuung, ihn zu ſehen, denn ich
konnte mich ausſprechen, ehe ich zu Eleanor ge-
langte, deren unerwarteter Anblick mich auẽs Neue
zwang, nach Faſſung zu ringen.
James ſah an meinem Blicke, daß etwas Un-
gewoöhnliches geſchehen war.
d/ frag
„Etwas. über alle Maßen
„Was gibt es, Ri-
daß er mich nöͤthig hat?“
Schreckliches!“ — „Nun, was, um des Himmels
willen?“ — „Moreland iſt ermordet worden!“ —
„Moreland! Ermordet! Und auf wen hat man
Verdacht?“ — „Ich weiß nicht; Eleanor muß in
Kenntniß geſetzt werden, und ihr Vater wünſcht,
daß ich es thue. Sie ſind ihr Couſin, James,
wären Sie nicht die geeignetſte Perſon⸗ den trau-
rigen Auftrag zu vollziehen?“ „Ich!“ rief er
zurückprallend. „Ich ſollte es thun“ O nein, ich
nicht! Ich wäre der Letzte, der dieß könnte. Sehe
ich denn danach aus, es ihr zu ſagen, wie?“ —
„Es wird beſſer ſein, ich unterrichte erſt Mary,
dieſe mag es ihr ſagen, “verſetzte ich; dabei wen-
dete ich mich nach der Thür, und die Waxte er-
ſtarrten mir auf den Lippen. Eleanor ſelbſt
ſtand, einem Marmorbilde gleich, in der Thüröff-
nungz; ſie hatte augenſcheinlich ſchon die ganze Bot-
ſchaft gehört, denn ſie war, ohne daß wir es be-
merkt, eingetreten. Ihr Angeſicht war weiß wie
das Morgenkleid, welches ſie trug. „Wo iſt er?“
fragte ſie tonlos. — „Im Gaſthof zum Adler,“
antwortete ich unwillkürlich, und erſt als das Wort
heraus war, erkannte ich, daß ich ohne 5 vuct un
geſprochen hatte. Eleanor wendete ſich raſch um
und eilte durch die Halle in's Freie, dem Dorfe
zu, leicht bekleidet wie ſie war, in dünnen Haus-
ſchuhen, mit halb aufgelösten Haaren, flüchtig wie
ein Windhauch. Ich ſtürzte ihr nach, ereilte ſie
und hielt ſie feſt. „Um Gottes willen, was wollen
Sie thun, Eleanor? Bleiben Sie hier, Sie kön-
nen ſo nicht fort!“ — „Laſſen Sie mich!“ rief ſie
verzweifelt. „Ich muß zu ihm! Sehen Sie nicht,
Sie wollte ſich loßrei-
ßen, und ich mußte ſie gewaltſam in's Haus zu-
rückführen. „Man wird ihn bald hierherbringen,“
das war Alles, was ich zu ihrem Troſte ſagen
konnte. Sie wankte, und ich mußte ſie auf den
Armen tragen. In der Halle kam uns Mary mit
lautem Weinen entgegen; ſie hatte von James be-
reits das Entſetzliche vernommen. „Sieh' nur,
Mary, man hält mich ab, zu ihm zu gehen!
ſagte Eleanor anklagend, wahnſinnig verſtoͤrt, aber
ſie machte keinen Verſuch mehr, loszukommen, ihre
Glieder wurden ſchlaff, ihre Augen ſchloſſen ſich
langſam, ſie ſank in Ohnmacht. Mary rief die
Wirthſchafterin und Sarah herbei, mit deren
Hülfe die Ohnmächtige in ihr Zimmer errars
ward.
Velleniſihe Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Sonntag, den 5. Januar
Poste restante.
Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody.
2. Die verdüchtige Geſtalt.
(Fortſetzung.)
Mr. Argyll's Haus, ein großes,
maſſives Ge-
bäude mit hohen, luftigen Fenſtern und Säulen-
hallen, lag zwar hart am Dorfe, war aber von
10 daf Raſenflächen, Gärten und Park umgeben,
ſo daß es als freier Sommerſitz gelten konnte.
Namentlich umſchatteten es gewaltige Eichen, deren
älteſte und majeſtätiſchſte ich oft bewundert hatte.
Als jetzt mein Blick daranf fiel, bemerkte ich an
verſchiedenen Stellen der knorrigen Rinde friſche
Verletzungen, ohne daß mir dieß jedoch beſonders
auffiel, denn der Sturm hatte ja auch hier entſetz-
lich gewüthet; der Boͤden war ringsum mit herbſt-
lichen Blättern und dürren Zweigen bedeckt und
es war anzunehmen, daß ein herabſtürzender
ſtärkerer Aſt die Abſchürfung der Rinde vexur-
ſacht hatte.
Süße, melodiſche Laute ſchlugen an mein Ohr;
ich blickte- am Hauſe empor und ſah Eleanor am
Fenſter ihres Zimmers ſtehen. Sie ſang für ſich
in leiſen Tönen einen Choral. Dieſe Töne, dieſe
in ſich ruhige, ſchöne Geſtalt waren der Ausdruck
des Friedens, der noch über dem Hauſe waltete,
und ich hatte jetzt die ſchmerzliche Aufgabe, ihn
ſtören zu müſſen, durch Entſetzen das ſtille, ſonn-
tägliche Behagen zu verſcheuchen. Eine ſchwere,
düſtere Wolke nahte dieſem ſonnigen Platze, um
nie mehr von demſelben zu weichen. Durch eine
Säulenhalle in das Bibliothekzimmer eintretend,
bemerkte ich James, zum Kirchgang angekleidet; ſein
Geſangbuch und ein weißes Taſchentuch lagen neben
ihm auf dem Tiſche, während er ſelbſt in einem
wuſt an ſemne zu leſen ſchien. So wenig mir
ſonſt an ſeinem Anblicke lag, dießmal war es mir
eine Art Genugthuung, ihn zu ſehen, denn ich
konnte mich ausſprechen, ehe ich zu Eleanor ge-
langte, deren unerwarteter Anblick mich auẽs Neue
zwang, nach Faſſung zu ringen.
James ſah an meinem Blicke, daß etwas Un-
gewoöhnliches geſchehen war.
d/ frag
„Etwas. über alle Maßen
„Was gibt es, Ri-
daß er mich nöͤthig hat?“
Schreckliches!“ — „Nun, was, um des Himmels
willen?“ — „Moreland iſt ermordet worden!“ —
„Moreland! Ermordet! Und auf wen hat man
Verdacht?“ — „Ich weiß nicht; Eleanor muß in
Kenntniß geſetzt werden, und ihr Vater wünſcht,
daß ich es thue. Sie ſind ihr Couſin, James,
wären Sie nicht die geeignetſte Perſon⸗ den trau-
rigen Auftrag zu vollziehen?“ „Ich!“ rief er
zurückprallend. „Ich ſollte es thun“ O nein, ich
nicht! Ich wäre der Letzte, der dieß könnte. Sehe
ich denn danach aus, es ihr zu ſagen, wie?“ —
„Es wird beſſer ſein, ich unterrichte erſt Mary,
dieſe mag es ihr ſagen, “verſetzte ich; dabei wen-
dete ich mich nach der Thür, und die Waxte er-
ſtarrten mir auf den Lippen. Eleanor ſelbſt
ſtand, einem Marmorbilde gleich, in der Thüröff-
nungz; ſie hatte augenſcheinlich ſchon die ganze Bot-
ſchaft gehört, denn ſie war, ohne daß wir es be-
merkt, eingetreten. Ihr Angeſicht war weiß wie
das Morgenkleid, welches ſie trug. „Wo iſt er?“
fragte ſie tonlos. — „Im Gaſthof zum Adler,“
antwortete ich unwillkürlich, und erſt als das Wort
heraus war, erkannte ich, daß ich ohne 5 vuct un
geſprochen hatte. Eleanor wendete ſich raſch um
und eilte durch die Halle in's Freie, dem Dorfe
zu, leicht bekleidet wie ſie war, in dünnen Haus-
ſchuhen, mit halb aufgelösten Haaren, flüchtig wie
ein Windhauch. Ich ſtürzte ihr nach, ereilte ſie
und hielt ſie feſt. „Um Gottes willen, was wollen
Sie thun, Eleanor? Bleiben Sie hier, Sie kön-
nen ſo nicht fort!“ — „Laſſen Sie mich!“ rief ſie
verzweifelt. „Ich muß zu ihm! Sehen Sie nicht,
Sie wollte ſich loßrei-
ßen, und ich mußte ſie gewaltſam in's Haus zu-
rückführen. „Man wird ihn bald hierherbringen,“
das war Alles, was ich zu ihrem Troſte ſagen
konnte. Sie wankte, und ich mußte ſie auf den
Armen tragen. In der Halle kam uns Mary mit
lautem Weinen entgegen; ſie hatte von James be-
reits das Entſetzliche vernommen. „Sieh' nur,
Mary, man hält mich ab, zu ihm zu gehen!
ſagte Eleanor anklagend, wahnſinnig verſtoͤrt, aber
ſie machte keinen Verſuch mehr, loszukommen, ihre
Glieder wurden ſchlaff, ihre Augen ſchloſſen ſich
langſam, ſie ſank in Ohnmacht. Mary rief die
Wirthſchafterin und Sarah herbei, mit deren
Hülfe die Ohnmächtige in ihr Zimmer errars
ward.