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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 27 - No. 39 (1. März - 29. März)
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heidelberger Lamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 28.

Mittwoch, den 4. März

1868.

Doppelter Brudermord.

Paris, 10. Februar.
Die Schwurgerichts⸗Annalen von Lille ſind um
einen entſetztichen Fall reicher. Der Zudrang des
Publikums in den Juſtizpalaſt iſt ein immenſer;
eine Rotte von Weibern hat ſich“ den Eingang in
den Saal lärmend erſtürmt, ſo daß der Präſident
vom Platz-Commando fünfzig Mann requiriren
mußte, um die Ruheſtörerinnen aus dem Saale zu
entfernen. ö
Der Juſtizpalaſt bleibt gleichwohl den ganzen

Tag über bis zum Schluß der Verhandlung förm-

lich belagert; von Zeit zu Zeit muß der Menge
der Gang der Verhandlung durch hiefür bezahlte
Perſonen berichtet werden. Und was gab es denn
gar ſo Eutſetzliches zu ſehen, zu hören?
Die Verhandlung eines Brudermordes, den der
Maſchinenfabriks⸗Arbeiter Jean Lacquement, ein
Mann mit den ruhigſten, gutmüthigſten Zügen,
an ſeinen beiden zehn und elf Jahre alten Brüdern
begangen hatte; auf dem Gerichtstiſche liegt das
Mord⸗Inſtrument, die ſchwere, mit dem Blut
Huc den Kopfhaaren der Ermordeten beklebte Holz-
acke.
Der Mörder folgt der Verhandlung ſehr trau-
rig und mit vieler Spannung; von Zeit zu Zeit
verhüllt er das Geſicht mit einem Sacktuche. Seine
greiſe, verwittwete Mutter wohnt der ganzen Ver-
handlung bei, ſie iſt aufgelöſt in Schmerz. Von

ihren drei Kindern ſind zwei vom älteſten Sohne

erſchlagen worden, und dieſer dritte erwartet heute
das Toödesurtheil, denn er iſt angeklagt, ſeine beiden
jüngeren Brüder, die ihn ſtets ſehr geliebt und ihm
alle Zärtlichkeit bewieſen hatten, nach reiflichem
Vorbedachte, mit jener ſchweren Hacke ermordet zu
haben, welche er zwei Tage zuvor ſich von einem
Hufſchmied in Orchies ausgeborgt, und die er zum
Brudermorde eigens ſcharf geſchliffen hatte.
Am 14. Jan. d. J. gegen 7 Uhr Früh verlie-
ßen die beiden Kinder das väterliche Haus in
Landas, um, wie gewöhnlich um dieſe Zeit, in die
Schule nach Orchies zu gehen. Der ältere Bruder
Jean, welcher ſeit zwei Jahren in der dortigen
Maſchinenfabrik arbeitet, folgt ihnen mit der Hacke

unter der Blouſe in fünf Minuten nach und trifft

ſie auf dem ihm wohlbekannten Fußſteige, der den
Weg zwiſchen Landas und Orchies abkürzt. Wie
die Knaben, auf einige Schritte von einander ent⸗—
fernt, der elfjährige Deſiré voran, der jüngere
Henri ihm folgend, ſorglos dahin ſchlenkern, die
mit Büchern und Brod gefüllten Schultaſchen luſtig
in der Luft kreiſend, um ſich an der Kreiſung zu
ergötzen, hebt Jean Lacquement die ſchwere Hacke
zu einem wuchtigen Schlage von rückwärts gegen
den Kopf des kleineren Bruders aus, Henri ſinkt
mit einem gräßlichen Aufſchrei nieder, Deſiré, der
ältere der Knaben, dreht ſich über dieſen Schrei
um, will Henri helfen, aber Bruder Jean ſtürzt
auf ihn zu, verſetzt ihm mit der Hacke einen Schlag,
zwei Schläge auf den Kopf; das Kind ſtürzt zu
Boden; der Brudermorder geht hierauf ruhig an
ſeine Arbeit und trifft um 7½¼ Uhr in der Werk-
ſtätte zu Orchies ein, arbeitet wie gewöhnlich ſehr
fleißig. Deſiré wird inzwiſchen neben der Leiche
Henri's aufgefunden; er athmet noch. Tribolet,
der Arzt von Landas, fragt ihn, was denn da ge-
ſchehen; das Kind ſtammelt nur noch: „Mein —
Bruder — den — Bruder — gemor — —“ die
Worte erſticken, der Knabe kann nicht mehr reden,
wird in das nächſte Haus bei Landas getragen;
er erwacht nicht mehr aus der Bewußtloſigkeit; in
einer halben Stunde iſt er todt.
Die Juſtiz kommt bald auf die Spur des Mör-
ders und findet ihn emſig bei der Arbeit. Er leug-
net hartnäckig. Man führt ihn zu den Leichen der
erſchlagenen Brüder. — — Er küßt, umarmt die
Leichname und benetzt ſie mit ſeinen Thränen.
Kaum kommt er aus dem Schluchzen wieder zu
Worten, ſo leugnet er. ö
Einige Tage darauf, als man ſeine mit Blut-
befleckten Kleider und Stiefeln und bald darauf
unter einem Stege nächſt dem Orte der ſchauerli-
chen That die blutbefleckte Hacke, welche erwieſen
daß ſie die vom Hufſchmiede entlehnte, in der
Werkſtätte ſcharf zugeſchliffene war, entdeckt hatte,
ſchritt er endlich zu dem Geſtändniſſe der doppelten
Kainsthat, behauptete jedoch, nach Henri nur einen,
nach Deſiré nur zwei Hiebe geführt zu haben.
Der ärztliche Befund weiſt im Gegenſatze hiezu
nach, daß dem Henri die Hirnſchale mit zwei
Schlägen — die Wunden waren 10 und 15 Cen-
timetres breit — entzwei geſpalten wurde; Deſiré
aber zeigte vier abſolut tödtliche Wunden am Hin-
 
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