Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1868

DOI chapter:
No. 1 - No. 14 (1. Januar - 31. Januar)
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43665#0027

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M5.

1868.

Poste restante.
Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody.

(Fortſetzung.)

Ich erinnerte mich der Aeußerung des Fremden,
das Mädchen ſei mit einem andern Zuge gekom-
men; deßhalb ſagte ich: „Wenn Leeſy mit dem
Sechsuhrzuge gekommen iſt, muß ſie doch mit Mo-
reland zuſammen gefahren ſein.“ — „Ich glaube,
Sie kam mit dem Siebenuhrzuge, Sir; ja, ſo

wird's ſein — es war halb Acht, als ſie hier an-

langte. Sie hat ihn nicht geſehen, ich fragte ſie
bereits geſtern darüber.“ — „In weſſen Geſchäft
arbeitet ſie in Newyork?“ fragte der Beamte. —
„In Nummer 3, Broadway; es iſt ein Laden
zwiſchen der Wallſtreet und dem Kanal ... Wün-
ſchen Sie ſonſt etwas von ihr?“ fragte die Frau
plötzlich ſtutzend, denn es kam ihr vor, als wenn
unſere Nachforſchung ſich mehr und mehr auf et-
was Beſonderes zuſpitze. — „O nein, nein,“ er-
wiederte der Beamte, ſich erhebend; „ich war nur
etwas ermüdet vom vielen Laufen und dachte, ich

könne mich bei Ihnen über dem Geſpräch ein we-

nig ausruhen. Vielleicht könnte mir Ihre Nichte
die Hemden machen, wenn ſie wieder zum Beſuch
kommt. Sie kommt doch nächſten Sonnabend?“
— „Das weiß ich wirklich nicht, Sir; es koſtet
ſie zu viel, die Fahrt jede Woche zu machen. Aber
wenn Sie mir den Auftrag wegen der Hemden
geben wollen und ich ſchicke ſie ihr, dann kommt
ſie gewiß, ehe ſie alle ſechs fertig hat. Soll ich

die Leinwand abholen, Sir?“ — „Ich werde ſie-

Ihnen bringen, ſobald ſie bereit liegt.“ — „Nun
gut. Ich hab' Ihnen einen recht guten Morgen
zu wünſchen, meine Herren.“
Der Beamte beſchloß, nach Newyork zu gehen
und einen Detektive auf Leeſy Sullivan's Spur
zu bringen, nachdem ich ihn auf die Differenz zwi-
ſchen den Angaben des Fremden und der Irlän-
derin aufmerkſam gemacht hatte. Ich gab ihm Geld
zur Reiſe und verſprach ihm für ſich wie für den
Detektive im Namen meines Chefs eine anſehnliche
Anerkennung, wenn es ihnen glücke, Licht in das
ſchauerliche Dunkel der Mordthat zu ſchaffen. Der

Freitag, den 10. Januar

Leichnam ſollte Montag Nachmittag nach Newyork
transportirt werden, wo am folgenden Tage die
Beſtattung ſtattfinden würde. Das Familienbe-
gräbniß der Moreland's war in Greenwood. Bis
zur Stunde der Wegführung nach dem Bahnhofe
war ich frei und trieb mich ziellos umher. ö
Zufällig oder von einer höheren Hand geleitet
kam ich in die Nähe der Villa Moreland, die etwa
eine Viertelſtunde von Blankville entfernt am Fuße
eines Hügels und am Ufer des Hudſonfluſſes lag,
rings von maleriſchem Geländ und reizenden Bäu-
men umgeben, eine der ſchönſten Partieen zum
Sommeraufenthalt in der ganzen Gegend. Zu
dieſer Jahreszeit war der Platz indeß verlaſſen;
nur der Gärtner und ſeine Frau bewohnten ein
kleines Gebäude hinter den Gartenanlagen, und

Erſterer war den größten Theil des Tags abwe-

ſend. Hinter dem Hauſe und nach der ſüdlichen
Pforte zu, durch die ich eintrat, dehnte ſich eine
Gruppe von Ahorn- und Rüſterbäumen aus, de-
ren gelb- und braunrothes Blätterwerk im Son-
nenſchein ſchillerte. Die ganze breite Fläche vor
der Villa war grüner Raſen, der ſich zum Fluſſe
allmälig abfallend hinzog. Im Garten blühte noch
manche ſpäte Blume, wie Aſtern in bunten Far-
ben, Kryſanthemum, Dahlien und Penſee. Ich
pflückte eine Anzahl der Letzteren — Cleanor's
Lieblingsblumen.
Als ich mich vom Garten aus der weſtlichen
Säulenhalle der Villa nahte, erblickte ich ſchon von
Weitem, ohne ſelbſt bemerkt zu werden, eine ſitzende
weibliche Geſtalt, einen Arm um eine der Säulen
gelegt und den Kopf an dieſe gelehnt, während der
Hut zu ihren Füßen im Graſe lag. Einen Schritt
mehr und ich »erkannte das Nähmädchen Leeſy
Sullivan. Ich hatte, da Geſträuch und einer der
koloſſalen Vaſen zur Seite der Säulenhalle mich
verbargen, Gelegenheit, das Geſicht des Mädchens
zu ſtudiren, auf welches mein Verdacht gefallen
war. In dieſem Augenblicke, wo Leeſy keine Ah-—
nung davon haben konnte, daß ſie beobachtet werde,
ſprach die Seele aus ihren Augen und aus allen
Zügen des Geſichts, und dieſe ſtumme Sprache be-
kundete nichts als Schmerz und Verzweiflung. Sie
ſtarrte regungslos vor ſich hin über die Raſen-
fläche, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Die Kleidung, welche ſie trug, war ſchwarz, und
wenn auch ſchlicht, doch nett. Die Marmorweiße
 
Annotationen