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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 1 - No. 14 (1. Januar - 31. Januar)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M. 14.

Freitag, den 31. Januar

1868.

Poste restante.
Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von ö
John Nobody.

(Fortſetzung.)
10. Eine ſchreckliche Wendung.

Eine Treppe tiefer, faſt unmittelbar unter Leeſy's
Gemach, nahmen wir Nacht- und Wachtquartier,
denn Keiner von uns verſpürte Neigung, ſich allzu
weit aus der Nähe des Flüchtlings zu entfernen.
Wir unterhielten uns über die Wiederauffindung
Leeſy's und über ihr Benehmen. „Von dem Au-
genblicke an,“ bemerkte Burton, als Sie mir mit-
theilten, es ſolle in dieſer Villa ſpuken, wußte ich,
was wir zu erwarten hatten. Wäre Leeſy ein
Mann, ſo würde dieſer längſt nach Kanſas oder
Kalifornien entkommen ſein; weibliche Weſen aber
gleichen den Muttervögeln, deren Neſt von Knaben
geſtört wird: ſie flattern in deſſen Umgebung umher
und führen die Sucher irre, gehen aber ſogleich in
daſſelbe zurück, wenn die Verfolger den Rücken
gewendet haben. Nichts wäre ſonſt weniger wahr-
ſcheinlich geweſen, als das Mädchen an dem Orte
zu finden, den ſie zu meiden Urſache haben könnte.
Es iſt ſchade um Leeſy, ſie iſt ſtolz, ſelbſtbewußt
und unzufrieden mit ihrer Lage, aber auch gebil-
deter, wie gewöhnlich Mädchen ihres Standes, und
nicht ohne die Manieren und das Weſen höoͤher

ſtehender Menſchen, ſo daß ſie die Stellung eines

reichen, wohlerzogenen Mädchens vollkommen aus-
füllen könnte. Auch das iſt mir zur unumſtößlichen
Gewißheit geworden: ſie hat Heury Moreland mit
einer unbegrenzten Tiefe und Heftigkeit geliebt, und
ſo liebt ſie noch den Schatten des Gemordeten.“
— „Wenn aber dieß gegründet iſt, Mr. Burton,
wie wäre es möglich geweſen, daß ſie den ſo heftig
geliebten Mann hätte tödten können?“ — „Das
behaupte ich auch nicht, mein Lieber! Ich bin
durchaus nicht überzeugt, daß Leeſy die Schuldige
iſt. Erſt muß ich ſie allein ſprechen, und dabei
gedenke ich jeden Gran von Wahrheit aus ihr
herauszupreſſen. Alles, was ſie in Bezug auf
Henry weiß, ſoll ſie mir mittheilen, damit es ent-
weder für oder gegen ſie benützt werde.“ — „Wenn

es möglich wäre, Mr. Burton, die Väter Eleanor's
und Henry's mit der Perſönlichkeit Leeſy's und mit
dem Eindrucke, den ihr jetziges Benehmen macht,
bekannt zu machen, ſo würden ſie wohl eine Ent-
ſchließung faſſen können, ob ſie Leeſy Sullivan als
Verdächtige anklagen wollen oder nicht.“ — „Ohne
Zweifel werde ich ihnen den ganzen Fall vorlegen,
Mr. Redfield, und gewiſſenhaft Alles anfähren,
was für und was gegen das Mädchen ſpricht; indeß
muß ich Ihnen bemerken, Freund, daß es mit den
Eindrücken von Schuld und Nichtſchuld auf Laien
ſein ganz Beſonderes hat — es kommen da gar
ſeltſame Schlüſſe vor. Wie zum Beiſpiel, wenn
ich Ihnen ſagte, daß es Leute gibt, die ohne eine
Spur von Beweis irgend einer Art Sie ſelbſt als
den Schuldigen betrachten?“
Ich fuhr vom Sopha auf und ſtarrte ihn an,
ohne zu wiſſen, ob ich ihm eine wörtliche oder
thätliche Erwiederung geben ſolle. — „Durchbohren
Sie mich nicht mit den Augen!“ rief er mit ruhi-
gem Lächeln. „Ich habe Ihnen nicht geſagt, daß
ich ſelbſt eine ſo ſchlimme Anſicht von Ihnen hätte,
ich ſagte es auch nicht, um Ihre Empfindungen zu
verletzen, ſondern um Sie aufmerkſam zu machen.
Dieſelbe Perſon, welche mir ihre Eindrücke in Be-
zug auf Sie mittheilte, thut es, wenn ich mich
nicht ſehr täuſche, auch gegen Andere, und wer
weiß denn, ob ſich nicht mit dem Gedanken auch
die Eindrücke weiter pflanzen? Ein ſolcher Gedanke,
ausgeſprochen, mag in manchem Gemüthe Wurzel
ſchlagen, ſelbſt wenn er als unwillkommener Gaſt
zu verſcheuchen verſucht wird, und ich ſage es Ihnen
als guter Freund, Mr. Redfield: Sie ſtehen wie
über einem Vulkan, welcher Sie in jedem Augen-
blicke verſchlingen kann.“ — „Ich?“ — „Ja, ja,
Lieber! Ich habe die geräuſchvollen Vorboten des
Erdbebens bereits vernommen, unde ich wollte Sie
warnen, damit Sie erforderlichen Falls auf Ihre
Vertheidigung bedacht ſind.“ — „Ich mich verthei-
digen? Gegen was? Und wer iſt mein Ankläger?
Doch ich habe nicht nöthig zu fragen. James
Argyll iſt der Bube, der mich aus ſelbſtſüchtigen
Motiven verdächtigt; er haßt mich, wie die Klap-
perſchlange den ſchenbaum.“ — „Wohl; ich glaube,
dieſe Empfindung iſt gegenſeitig wie der Argwohn;
oder wollen Sie beſtreiten, daß Sie ebenfalls den
Gedanken hegen, James Argyll könne den Tod
Henry Moreland's veranlaßt haben?“ — „Nein
 
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