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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 105 - No. 117 (2. September - 30. September)
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geidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M115.

ö Freitag, den 25. September

1868.

Die Roſe auf dem Kirchhof.
Weſtfäliſches Haidebild aus dem Anfange dieſes Jahrhunderts
ö von Joſef Seiler.

(Schluß.)
43.
Nun war es mit Glück und Frieden auf der
Angermühle zu Ende. Die Lene ſaß in ihrem Käm-
merlein und weinte. Der Michel war faſt nie zu
Hauſe. Und wenn jene ja einmal nach ihm fragte,
ſo hatten ihn die Leute im goldenen Einhorn ge-
ſehen, oder doch auf dem Wege dahin.
Eines ſchönen Morgens aber ging er nicht hin-
aus zum Einhorn, fuhr auch nicht des Weges. Und
das hatte ſeinen gar eigenen Grund. Denn um
Frühſtückszeit kamen etliche von den fremden Juden
und hatten Gerichtsdiener und Pfandleute bei ſich.
Und wie freundlich der Michel auch that und wie
goldene Verſprechungen er machte: ſie ſchrieben ſeinen
ganzen Hausrath zur Pfändung auf. Da fand ſich's⸗
denn klärlich, daß der Michel Geld, viel Geld auf-
geborgt und ſich um die Zinſen wenig oder gar
nicht bekümmert hatte. Nun iſt es merkwürdig, wer
von einem Jahre die Zinſen nicht bezahlen kann,
wie noch viel ſchwerer dem's im zweiten Jahre fällt.
Und nun erſt im dritten — da iſt's ſchon beinahe
unmöglich. Das hat ſelbiger Zeit auch der Michel
erfahren. Wenn er's ja einen Tag wieder zu ver-
geſſen gedachte, ſo erinnerten ihn ganz gewiß am
andern Tage ſeine Peiniger um ſo dringender daran.
Sie ſtürmten zuletzt ungeſtüm von allen Seiten auf
ihn los. Es blieb fürder nicht mehr beim Verkauf
des Geräthes: Aecker, Wieſen und Forſte kamen der
Reihe nach auf die Gant. Kaum, daß der Michel
die Mühle und den großen Garten mit dem Teiche
noch zu eigen behielt. ö
Eines Nachmittags, als Lene wie gewöhnlich
weinend in ihrem Verſchließ zubrachte, drang der
Michel wild herein, die Zeichen halber Trunkenheit
im Geſicht. „Ich muß das goldene Kreuz von
Deiner Mutter haben!“ begann er herriſch. „Meine
Creditoren drängen mich; Deine andern Koſtbar-
keiten ſind bereits verkauft und verpfändet!“ —
Zum erſten Male widerſprach die Lene ernſtlich:

„Nie in meinem Leben werd' ich das Kreuz meiner

Mutter von mir laſſen! Sie hat's von ihrer Mutter
und die von ihrer Mutter — und ſo hinauf bis
zu mehr als hundert Jahren. Es iſt ein geheimer

Segen mit dem Kreuze. Geb' ich es von mir, ſo
ſind wir ganz verloren.“ — „Das ſind wir mit
und ohne Kreuz, Frau — verlaß Dich darauf!
Und — um alles weitere Gerede zu vermeiden —
ich werde das Kreuz nehmen, wenn Du es nicht
geben willſt!“ — Damit ſchob er die Frau unſanft
bei Seite, erbrach den Wandſchrank, in welchem ſie,
wie ihm bewußt war, das Käſtchen aufbewahrte,
und ſtreckte gierig die Hand aus nach dem wunder-
thätigen Kleinod. Da raffte ſich die arme Lene ver-
zweiflungsvoll auf, ergriff haſtig das Käſtchen unter
ſeinen Händen und wollte damit zur Thüre hinaus.
Michel's Wuth ſtieg auf's Aeußerſte. Mit gewalti-
gem Griff entriß er der Lene das Käſtchen und

verſetzte der ſich noch gegen ihn Sträubenden mit

der ſcharfen, ſtahlbeſchlagenen Kante deſſelben einen
Schlag in's Antlitz, daß ſie betäubt zu Boden ſank.
Dann floh er ſchnell mit ſeiner ſchmachvoll errun-
genen Beute.
Es währte lange, bis die Lene ſich erholte. Als
ihr aber Beſinnung und Gedächtniß wiederkehrten,
da überſah ſie ihr ganzes Unglück vollkommen. Auch
das Letzte, das Heiligſte hatte er ihr geraubt. Er,

dem ſie ihr Alles, ihr Glück, ihre Ruhe, ihr Ge-

wiſſen geopfert. Und ſie wußte — wohin er's trugl
Als er am Abend heimkehrte, war er wüſt be-
trunken. Taumelnd und fluchend ſuchte er ſeine
Schlafkammer. ö ö
Es war der Lene ein heißer Tag geweſen. Sie
ging, ihre brennenden Wangen zu kühlen, in den
Garten hinab. Zufällig, oder auch nicht zufällig,
kam ſie in den Baumgang und wandelte langſam
nach dem Weiher himab. Lange war ſie dieſen Weg
nicht gegangen. Seltſam wehmüthige Gedanken ſtie-
gen in ihr auf — der volle Mond ſpiegelte ſich in
ihren Thränen. Sie kam an die Steinbank unter
den düſtern Tannen. Matt, ihrer Schmerzen nicht

mehr mächtig, ſetzte ſie ſich. Wie lange ſie dort ge-

ruht haben mochte, wußte ſie nicht. Ein Geräuſch
im Waſſer weckt ſie. Sie ſchaut auf — — die
Wellen treiben ein todtes Kind an's Land! — Eine
Schnur mit einer Schlinge war an ſeinem Halſe.
Der Stein, der in der Schlinge befeſtigt geweſen
ſein mochte, war herausgeglitten; ſo kam der kleine
Leichnam, von keinem Gewicht mehr am Grunde
gehalten, auf die Oberfläche des Waſſers. — Ent-
ſetzt ſprang Lene auf, um in's Haus zu eilen und
Hülfe zu rufen. Da kam ihr eine Magd entgegen,
 
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