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Heidelberger Familienblätter — 1868

DOI Kapitel:
No. 66 - No. 76 (3. Juni - 28. Juni)
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heidelberger gamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 67.

Freitag, den 5. Juni

1868.

Zu ſpüt.
Eine Föhngeſchichte.
(Fortſetzung.)

„Ein herrlicher Tag, bei San Carlo! Die
Sonne wird den jungen Weinſchößlingen wohlthun,
gerade ſo wie meinen alten, gichtbrüchigen Knochen,
Nachbarin Brigitt“, ſagte ein alter Mann, welcher
ſchon der beſſern Klaſſe der Einwohnerſchaft anzu-
gehören ſchien.
„Corpo di Bacco! der Kalender hat ein paar
Monate überhüpft und der Juni wird uns über
den Hals kommen, ehe wir uns deſſen verſehen,“
bemerkte einer der Witzbolde des Dorfes, während
Männer und. Frauen, Knaben und Mädchen ihre
Abſchiedsgrüße den ſcheidenden Gäſten zuriefen,
deren hoffnungsvolle Blicke bewieſen, daß auch ſie
einer leichten und angenehmen Paſſage der Alpen-
ſtraße entgegenſahen. ö
Die Sonne ſchien warm und hell. Der blaue,
von einem Felſenvorſprung zum andern ſtürzende

Gießbach glitzerte wie ein breites Land von polir-

tem Stahl, die zarten jungen Weinblätter ſchienen
ſich der willkommenen Waͤrme zu erſchließen und
das ganze Thal gewann bei dieſem vorzeitigen
Lächeln des nahenden Sommers ein heiteres, mun-
teres Anſehen.
Luſtig läuteten die Glöckchen an den Kopfbügeln
der Saumthiere und die auf die deutſche Familie
wartenden Poſtpferde ſchüttelten ungeduldig ihre
Schellenhalsbänder, während ihre Hufe das Pflaſter
ſcharrten. ö ö
Selbſt unvernünftige Geſchöpfe wurden durch
die milde Luft und den ſchönen Tag heiter geſtimmt
und konnten nicht erwarten, bis es fortginge.
Endlich war Alles bereit und man wartete blos
noch auf die deutſche Familie. Dieſe fand ſich zu-

letzt jedoch ebenfalls ein, begleitet von Wirth und

Wirthin, Kellner, Stubenmädchen und Hausknecht,
kurz, von dem ganzen freundlich ſchmunzelnden Ge-
neralſtab des Silbernen Pelikans.
„Ein echter Familienvater!“ ſagte ich bei mir
ſelbſt, indem ich den Landsmann erkannte, dem ich
den Weg nach der Poſtexpedition gezeigt. „Seine

n 2 ö‚ unklaren Beſorgniß getrieben,
würdige Chehälfte iſt eine ſtattliche, hübſche Dame.
Die eine Tochter ſieht etwas bleich und kränklich

aus, die andere aber iſt wirklich ein Prachtmäd-
chen.“ ö
Ich konnte nur einen flüchtigen Blick von dem

ſchönen Geſicht und rabenſchwarzen Haar der zwei-

ten Tochter erhaſchen. Dann ſchloß ſich die Thür
des Wagens und die Poſtillone ſchwangen ſich,
nachdem ſie lange an dem Geſchirr herumhantiert,
endlich in den Sattel.
Vier wiehernde, bäumende Schimmel, zwei
paar ſchmierige Reitſtiefel, zwei blaue Jacken mit
rothen Aufſchlägen und ein dunkelgrüner, raſſeln-
der, polternder Wagen ſauſten vorüber, dem Zuge
voran. ö ö x
Unter Peitſchenknall und Schellengeklingel, unter

Gelächter und halb ironiſchen, halb aufrichtig ge-

meinten Lebewohlrufen und Glückwünſchen, ſetzte

ſich dann der ganze übrige Zug mit Fußgängern,

Reitern, Fahrenden, Roſſen und Maulthieren in
Bewegung und ſchlängelte ſich die ſteile Straße
hinauf.
Unten im Dorfe ſtanden noch eine Menge hei-
tere Gruppen, die nach der leichtherzigen Art und
Weiſe der Bewohner des Südens mit einander
plauderten und lachten. Alle ſchienen feſt über-
zeugt zu ſein, daß die Reiſenden die Paſſage wohl-
behalten und auf angenehme Weiſe zurücklegen
würden. ö ö
Ein einziger langer, grimmig dareinſchauender
Mann, deſſen langes, graurothes Haar unter ſeinem
breitkrämpigen Hut herabhing und der, wie ich ver-
muthete, ein Kuhhirt aus Uri und in Angelegen-
heiten ſeines Berufes von den Bergen herabgekom-
men war, ſah den verſchwindenden Reiſenden mit
ganz anderen Blicken nach.
Er ſtand, ein wenig abgeſondert von den mit
ihren rothen Schärpen umgürteten Dorfbewohnern,
an einen Baum gelehnt und hielt ſich ſeine breite
ſtarkknochige braune Hand über die Augen, während
er dem Zuge nachſchaute. ö
Dann warf er einen forſchenden Blick ringsum
auf den Horizont und ſagte endlich in ſeinem rauhen
Dialect:
Ja, ja, eine glückliche Reiſe! Die kann jeder
Dummkopf wünſchen. Wir werden es wohl ſehen.“
Theils von Neugier, theils von einer gewiſſen
+ denn ich hatte von
der ſcharfen Beobachtungsgabe und gediegenen Er-
fahrung der alten Hirten in Bezug auf die Witte-
 
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