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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 66 - No. 76 (3. Juni - 28. Juni)
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Heidelberger Tamilienblätter.

Belletriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 70.

Freitag, den 12. Juni

1868.

Zu ſpät.
Eine Föhngeſchichte.
Schluß.)

Und mit verdoppelter Schnelligkeit ſchritt der
Führer weiter. Wir vermochten kaum, ihm zu fol-
gen, ich hörte aber, wie er bald Gebete, bald Ver-
wünſchungen über die Unwiſſenheit und Unacht-
ſamkeit der Poſtillone murmelte.
Ich mußte Fritz, der jetzt kaum noch im Stande
war, einen Fuß vorwärts zu ſetzen, den letzten
Haufen nackten Gerölles, um welchen das blaue
Eis eines kleinen Gletſchers ſich geſchloſſen, förm-
lich hinaufzerren.
Unter uns — vielleicht hundertundfünfzig Fuß
nef — ſahen wir einen Haufen Maulthiere, Pferde,
Menſchen und Gepäck, denn der ganze Zug hatte
am Rande eines tiefen gähnenden Abgrundes, in
deſſen Tiefe ein aus einem Eistunnel hervorſtür-
zender, wilder Strom rauſchte, erſchrocken Halt
gemacht. ö ö
Es war nun offenkundig, daß die Unglücklichen

in der That vom richtigen Wege abgekommen
waren. ö ö

Dicht neben dem Wagen, mitten unter der von

Angſt und Schrecken erfuͤllten Gruppe, ſtand die
ſchöne, ſchwarziugige Louiſe. Sie ſtützte ihre
kranke, jüngere Schweſter, welche ohnmächtig ge-
worden war und deren bleiches Geſicht auf ihrer
Schulter ruhte.
Friedrich bog
ab und rief:
„Louiſe! Louiſe!“ ö
Sie blickte auf, erkannte ihren Verlobten und
ſtieß einen Freudenſchrei aus — einen Schrei, der
mir jetzt noch in den Ohren hallt.
„ Ha, Fritz!“ rief ſie. „Schau, Papa, da kommt
Hilfe! Gerettet! gerettet!“
In dieſem Augenblick ſchien es völlig Nacht
werden zu wollen. Ein Windſtoß heulte vorüber
und der Schnee begann ganz dicht zu fallen.
ö „Nieder, wenn Ihnen Ihr Leben lieb iſt, nie-
der!“ ſchrie Gotthelf, indem er Friedrich und mich
mit ſeinen ſtarken Fäuſten packte und uns mit Ge-
walt auf den Boden niederzerrte.
Es geſchah dies keinen Augenblick. zu früh.
Etwas Weißes, gleich dem dicken Schaum einer

ſich über den Rand der Höhe hin-

mächtigen Welle, ſchien ziſchend und ſiedend über
uns hinzufegen, während wir zwiſchen den Felſen
niedergeduckt lagen. Die Kälte ward immer größer
und ich konnte kaum Athem genug ſchöpfen, um
zu fragen:
„Was iſt das?“ ö
„Der Föhn!“ antwortete Gotthelf. „Bleiben
Sie ſtill liegen; hier ſind wir am ſicherſten.“
Einige Augenblicke lang ſah ich weiter nichts,
als das blendende Sauſen von dem wilden Wind
getriebener, dichter, dicker Schneeflocken. ö
Vergebens verſuchte ich mich zu erheben. Der
Sturm warf mich ſofort wieder nieder. Ich kroch
unter einen Felſen, um nicht von dem fallenden
Schnee förmlich begraben zu werden; erſt aber als
die Wuth des Sturmes vorüber war, konnte ich
mich auf Händen und Knieen bis an den Rand
der Höhe ſchleppen, von wo aus der Zug der Rei-
ſenden ſichtbar war.
„Sie ſind nicht Alle mehr da“, flüſterte Fritz
mit heiſerer Stimme und mit dem Finger zeigend.
Ich ſchauderte, daß viele von den Thieren und
auch einige von den Menſchen von dem Sturm
über den Rand des Abgrundes hinabgeriſſen wor-
den und verſchwunden waren.
Dies war aber noch nicht Alles.
Dem zeigenden Finger unſers Führers folgend,
erblickten meine Augen ein Schauſpiel, bei welchem
mir das Blut in den Adern erſtarrte.
Die gewaltige Eismaſſe unterhalb des Felſen-
vorſprungs, auf welchem wir lagen, hatte ſich von
dem Boden, auf dem ſie geruht, losgetrennt und
glitt langſam, aber unaufhaltbar — unter der Laſt
des friſchen Schnees, welche der Föhn in unregel-
mäßigen Maſſen darauf gehäuft, dem abſchüſſigen
Rand der Straße zu und drängte wie eine ſich be-
wegende Wand die unglücklichen Reiſenden unten
ihrem Untergang entgegen.
Wir ſahen, wie ſie ſich dem Wagen, den Maul-
thieren und den ſchnaubenden Pferden- näherte,
welche ſich bäumten und ausſchlugen und vergebens
die Flucht zu ergreifen ſuchten.
Wir ſahen die angſtvollen Geberden der un-
glücklichen Reiſenden. Wir ſahen Louiſe. Ihr
dunkles Haar fiel ihr aufgelöſt auf die Schultern
herab, ihre Arme hielt ſie ausgeſtreckt, ſtützte aber
immer noch ihre arme, jüngere Schweſter, welche

Schutz ſuchend ſich an ſie anklammerte.
 
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