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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 105 - No. 117 (2. September - 30. September)
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geidelberger amilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M1I12.

Freitag, den 18. September

1868.

Die Roſe auf dem Kirchhof.

Weſtfäliſches Haidebild aus dem Anfange dieſes Jahrhunderts
ö von Joſef Seiler.

ö 1.
„Ja,“ — begann der alte Jürgen immer, wenn
er dieſe Geſchichte erzählte — „ja, 's iſt ein eigen
Oing um die Liebe! Den Einen ſucht ſie und er
mag ſie nicht und flieht vor ihr ſein ganzes Leben
lang — bis in den Tod. Ein Anderex wieder
ſucht nach ihr in all' ſeinen Tagen und findet ihrer
nimmer. Er wird aber nicht müde und verliert
die Hoffnung nicht und merkt nicht, wie ſein Haar
erbleicht unterm Suchen. Und all', was er fin-

det iſt endlich auch — der Tod. Hab' Manchen ſo

begraben.“ — —
Der alte Jürgen war nämlich der Todtengräber
des Städtchens. Wir jüngeren Leute pflegten uns
an den langen Winterabenden in ſeinem Häuschen,
das auf einem Ausbug der Stadtmauer unfern des
Friedhofes ſtand, zu verſammeln und ſeinen Er-
zählungen zu lauſchen. Er hatte erſt geiſtlich wer-
den ſollen; aber als er eben in's Seminax einzu-
treten gedacht, kam der große Krieg gegen die Fran-
zoſen — Anno 13 und ſo weiter.
Jürgen mit vielen ſeiner Kameraden Soldat. Bei
Leipzig verlor er durch einen Säbelhieb ein Auge.
Nun war's nichts mehr mit dem geiſtlichen Stu-
dirweſen. Dafür gaben ſie ihm in der Heimath
den Dienſt, welchen voreinſt ſein Vater, der auch
Jürgen geheißen, mit Ehren verwaltet hatte. Statt
für die Todten Veſper und Requiem zu halten,
macht' er ihnen fortan die letzte Ruheſtatt zurecht
und deckte ſie mit einem Leilach von grünem Raſen
zu. Seine kleine Invalidenpenſion, mit dem Tod-
tengräberſolde dazu, ließ ihn in ſeiner⸗dürftigen
Amtswohnung bei äußerſt geringen Bedürfniſſen
— was man ſo ſagt — ſorgenfrei leben. Weib
und Kind, welche von ſeinem Brode mitaßen, hatt'
er nicht. In unſeren Abendverſammlungen bei
ihm, welche er ſeine „Schule“ nannte, berichtete
Jürgen entweder von ſeinen Kriegsabenteuern, wo-
bei er immer ſehr redſelig war, oder er erzählte
Schnurren und Märchen. Manchmal auch, wenn
beim duftigen Warmbier die Tonpfeife dampfte,
kam er auf Erinnerungen aus ſeines Vaters und
ſeinem eigenen früheren Leben. Dahin gehört denn

Da wurde der

auch dieſe Geſchichte, die er immer mit beſonderer
Vorliebe, doch nie ohne tiefe Rührung, erzählte.
Ich gebe ſie hier, ſo viel mir das möglich, mit ſei-
nen eigenen ſchlichten Worten. ö
Die Lene, ſagte der alte Jürgen, iſt ihrer Zeit
das allerſchmuckſte Weibsbild im Städtchen geweſen.
Mein Vater hat ſie noch als Jungfer gekannt. Und
ich kann euch verſichern, daß ſie, als ſchon Kum-
mer, Sorg' und Noth ihre täglichen Gäſte waren,
noch blühte wie eine Roſe — auf dem Kirchhof.
Es lag ſo ein Nebelſchleier, ſo ein Grabeshauch
über Wang' und Stirn, daß man bei ihrem An-
blick an eine Kirchhofroſe denken mußte. Ja, lacht
nur über den Graubart! Ich bin Kenner und
weiß, was ich ſage. Sie iſt nun ſchier achtzig
Jahr alt und dürr wie Holz und Pergament —
aber dazumal war keine ſchöner zu finden, als die
Lene. ö ö ö
Daß ſich nun der Liebhaber genug einfanden,‚
könnt ihr leichtlich denken. Mein Vater ſagte oft,
in dem Malzgäßchen, als da die Lene mit ihrer
Mutter gewohnt, ſei es alleweil von jungen und
alten Freiern nimmer ledig worden. Die alte Frau

Marthe meinte aber, keiner von denen Allen ſei

für ihr ſchönſtes Töchterlein gut genug — und da
meint es das Töchterlein denn auch. Nun drückten
ſie ſich lieber hin, aßen Schwarzbrod mit Salz und
arbeiteten bis in die ſpäte Nacht — nur um auf
den Rechten warten zu können. Denn der werde
ſchon kommen, behauptete die alte Frau Marthe
ſteif und feſt. Man dürfe ſich nur das Warten
nicht verdrießen laſſen. Lene ſei erſt achtzehn Jahr
alt und wenn ſie ſich recht und ordentlich halte, ſo
könn' es gewißlich nicht fehlen.
Fehlte auch nicht. Denn einſt am heiligen

Pfingſtſonntag, als die heilige Meſſ' aus war und

auf Mutter Marthens wehbeinigem Tiſchlein als
beſondere feſtliche Leckerei Sauerkraut in Oel und
eine gebratene Mettwurſt prangte — ſiehe, da

pocht' es an der gebrechlichen Thür und herein

trat im höchſten Staate der Vollbauer Joſt, dem

das große ſchuldenfreie Erbgut gehörte mit der An-
germühle und den Fiſchteichen, dicht vor dem Städt-
lein.
noch der Mühlenjoſt den Mund aufgethan hatte,

Da merkte nun die alte Marthe gleich, ehe
das ſei der Rechte, leib und leibhaftig. Gleich rückte

ſie den Ehrenſitz, einen alten, mit gelbem Plüſch
überzogenen Lehnſtuhl, der noch aus beſſeren Zei-
 
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