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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 66 - No. 76 (3. Juni - 28. Juni)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Freitag, den 26. Juni

1868.

Eſtella.
Novellette nach dem Engliſchen von A. K.

I.

Meine Mutter ſtarb als ich noch ſehr jung war,
und ich ward nach ihrem Tode, da mein Vater
keinen feſten Wohnſitz hatte, zu meiner fernerweiten
Erziehung in ein Kloſter geſchickt, wo ich faſt un-
unterbrochen die Zeit bis zu meinem ſiebzehnten
Jahre verlebte. ö
Mein Leben war hier im Ganzen genommen ein
ſehr glückliches, denn wenn ich auch von den Freu-
den der Außenwelt wenig kennen lernte, ſo erfuhr
ich doch auch wenig von ihren Leiden. ö
Ich hatte die Schweſtern ſehr lieb gewonnen
und beſaß auch unter den Schülerinnen nach Mäd-
chenart mehrere Buſenfreundinnen. ö
Während der Feiertagsferien ward mir die Zeit
oft ein wenig lang, denn ich war ſehr oft die Ein-
zige, die keine Heimath hatte, welche ſie ebenfalls
hätte beſuchen können, und ich ſah mich dann mit
den Schweſtern ganz allein. Dieſe waren aber ſo
freundlich und gütig gegen mich, daß ich, obſchon
Jahre ſeitdem verfloſſen ſind, an dieſe Zeit meines
Lebens ſtets mit Vergnügen zurückdenke.
Mein Vater ſtarb unerwartet, als ich ungefähr
ſiebzehn Jahre zählte, und da meine Erziehung nun
als beendet betrachtet ward, ſo zog ich zu meiner
Tante, Mrs. Verecroft, die meines Vaters Schwe-
ſter war.
Meine Tante Verecroft war Wittwe und hatte
ein einziges Kind, eine Tochter, meine Couſine
Eſtella. Dieſelbe war damals fünf⸗ oder ſechsund-
zwanzig Jahre alt, ſehr ſchön, mit großen, feurigen
dunklen Augen, dunklem Haar, lang und gut ge-
ů— 1 mit der Miene und Haltung einer Prin-
zeſſin.
Ich fühlte mich ſehr einſam an dem erſten
Abend, als ich in Gundringham, einem weitläufi-
gen, altväteriſchen Gebäude in ein er der Grafſchaf-
ten des Binnenlandes, angelangt war. Es war
von rothen Ziegelſteinen erbaut, hatte Spitzbogen-
fenſter mit efen Brüſtungen und war von einem

ſtattlichen Park umgeben, während in der Ferne

ſich ein Fluß vorüberſchlängelte, ſo daß das Ganze
eine ſehr hübſche Landſchaft bildete.

Meine Tante, die eine ſehr ſanfte, ſtille Frau
zu ſein ſchien, empfing mich ſehr freundlich; meine
Couſine Eſtella aber nahm, nachdem die erſten Be-
grüßungen vorüber waren, kaum noch weitere No-
tiz von mir. Ich glaube, ſie betrachtete mich als
ein Kind, und es iſt wohl möglich, daß ich ihr wie

ein ſolches vorkam, denn ich war hellblond, hatte

blaue Augen und war ziemlich klein, ſo daß ich
wahrſcheinlich noch jünger ausſah, als ich in der
That war. Auf alle Fälle hörte ich ſie einmal
ſagen, ich könne vielleicht für hübſch gelten, ſchiene
aber noch viel kindiſcher zu ſein, als ſich aus mei-
nem Ausſehen und meinem Benehmen ſchließen
ließ; wahrſcheinlich, hörte ich ſie hinzufügen, ſei

dies die Folge meiner klöſterlichen Erziehung.

Es war aber auch noch eine andere Perſon da,
die ich nicht vergeſſen darf, zu erwähnen, weil ſie
ebenfalls mit zu der Familie in Gundringham ge-
hörte, obſchon ſie zur Zeit meiner erſten Ankunft
hier nicht zugegen war. Dieſe Perſon war Couſin
Geoffrey.
Eigentlich war er kein Verwandter von mir,
ſondern ein Couſin des verſtorbenen Gatten meiner
Tante; da er aber ſtets Couſin Geoffrey genannt
ward‚ ſo pflegte ich ihn natürlich auch ſo zu nennen.
Meine Tante ſagte mir, er habe hier eigentlich
nicht ſeinen beſtimmten Wohnſitz, ſei aber faſt fort-
während da, und das Beſitzthum werde nach ihrem
Tode, der Familienerbfolge gemäß, auf ihn über-
gehen. ö
Ich war ſehr froh, als Couſin Geoffrey kam,
denn Eſtella nahm, wie ich ſchon bemerkt, faſt gar
keine Notiz von mir und meine Tante brachte den
größten Theil ihrer Zeit in ihrem Zimmer zu oder
ſaß, ſelbſt wenn dies nicht der Fall war, ruhig in
einem Lehnſtuhl mit einer Näharbeit beſchäftigt oder
in einem Buche leſend. Die eigentliche Leitung
aller häuslichen Angelegenheiten ſchien ausſchließlich
Eſtellas Sache zu ſein und ich glaube, meine Tante
getraute ſich im Grunde genommen gar nicht, ſich
einzumiſchen.
Couſin Geoffrey nahm mir gleich am erſten Tage

ſeiner Ankunft eine förmliche Laſt vom Herzen.

Er war ungefähr ſiebenundzwanzig Jahre alt, von
langem Wuchſe und ſehr huͤbſchen Zügen. Dabei
beſaß er eine gewiſſe Ungezwungenheit des Beneh-
mens, welche die Leute zu nöthigen ſchien, ihm ſei-
nen Willen zu thun, mochten ſie nun wollen oder
 
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