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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 118 - No. 130 (2. October - 30. October)
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Heidelberger Familienblätter.

Velleriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M22.

Sonntag, den 11. October

1868.

Aus einem ruſſiſchen Tagebuch.“*)

Das Oſterfeſt ſtand vor der Thür. Es fiel in
dieſem Jahre ſpät, in die zweite Hälfte des April,
und brachte uns ſtatt Regen und Hagel, wie ſonſt,
den jungen lachenden Frühling mit. Die warmen
Strahlen der Aprilſonne ſogen begierig die Winter-
feuchtigkeit aus dem Boden und die trockenen Winde
hatten die noch vor wenigen Wochen einen boden-
loſen Moraſt bildenden Wege fahrbar gemacht. Es
zog mich mächtig hinaus auf das Land, in die freie
Natur, und ſo war mir die Einladung des Fürſten
Waſſilji Nikolajewitſch, das Feſt bei ihm auf dem
Gute Nadeſchdina im Kreiſe ſeiner Familie zu
feiern, höchſt' willkommen. Ich war bisher mit der
letzteren nie in Verbindung gekommen, obwohl ich
den Fürſten ſeit mehreren Jahren kannte und als
Beamter in der Kanzlei des General⸗Gouverneurs
von Kiew Gelegenheit gehabt hatte, ihm manche
wichtige Dienſte zu leiſten. Nur an Wéra, ſeine
jüngere Schweſter, erinnerte ich mich dunkel; ich
hatte ſie faſt noch als Knabe oft beim Grafen
Kurakoff in Petersburg geſehen, einem Anverwand-
ten der Familie, in deſſen Haus ſie während des
Aufenthaltes ihrer Eltern im Auslande erzogen
wurde, und mit dem damals ungefähr zehnjährigen
Mädchen gern meine Scherze getrieben. Das war
aber lange, volle 26 Jahre her, und ich hatte ſeit-
dem ſo Vieles erlebt. Wéra mußte, nach dem zu
urtheilen, was man über ſie hörte, ſich zu einer
ſeltſamen, außergewöhnlichen Perſönlichkeit entfaltet
haben, und ich war nicht wenig begierig, ſie wieder-
zuſehen. Für die fürſtliche Familie aber, eine der
älteſten im Reiche und noch vor gar nicht langer
Zeit ſo reich und mächtig, jetzt dagegen ihrem
äußerſten Verfall entgegeneilend, habe ich ſtets die
wärmſten Sympathieen gehegt; ich habe überhaupt

eine leidenſchaftliche Verehrung für geſchichtliche

Ruinen. ö ö
Mein alter Univerſitätsfreund aus Berlin, Karl
Karlowitſch, war von mir bewogen worden, die Reiſe
mit mir zu machen. Er hatte die Stellung eines
Arztes auf den Gütern eines reichen Gutsbeſitzers
in der Ukraine angenommen und mich in Kiew
überraſcht, wo er den Geſetzen nach ſein Doctor-

*) Aus der „Preſſe.“

Examen an der Univerſität ablegen mußte. Er

hieß Guſtav Lehmann und war ein Berliner; ich
pflegte ihn aber zum Scherze mit dem Stichnamen,
welchen die Deutſchen in Rußland tragen, Karl-
Karlowitſch zu nennen, weil er eine grundehrliche
deutſche Natur war und bei uns bekanntlich die
Ehrlichkeit nicht als eine Tugend, ſondern als
Dummheit gilt. ö
Es war ein prächtiger Frühlingsmorgen, an
dem wir unſere Reiſe antraten. Um ſieben Uhr

Früh hatte ich auf der Poſt die Pferde beſtellt und

um zehn Uhr ſtanden ſie richtig vor meinem Hauſe;
in Rußland kann man das ſchon eine prompte Be-

dienung nennen.

Meine leichte Tarantas, der beſte Reiſewagen
in dieſer Jahreszeit, war bald von Makar, meinem
Diener, gepackt; wir ſtiegen ein und machten es
uns auf dem weichen Sitze recht beguem. Makar
nahm neben dem Poſtillon Platz, entblößte andäch-
tig ſeinen Kopf und rief: Pascholl! und wohlge-
muth rollten wir durch die Gaſſen der Stadt dem
Dujepr zu, über den uns die Fähre bald ſetzte,
denn damals beſtand noch nicht die ſchöne ſteinerne
Brücke, die jetzt beide Flußufer verbindet. „Nun,
Bruder, zeige, daß Du fahren kannſt, es wird et-
was Gutes zum Thee geben!“ rief ich dem Jimſch-
tſchik zu; die Pferde ſetzten ſich in Galop und wir
brauſten wohlgemuth hinein in die weite Ebene, die
ſich vor uns im warmen Glanze der Frühlingsſonne
ausdehnte. ö
Und dieſe hatte ihre lebenerzeugende Macht
hier ſchon gehoͤrig bewährt; die Grasſtrecken prang-
ten bereits in einem Teppich von kleinen blauen
und weißen Hyaeinthen, zwiſchen denen ſich wilde
Tulpen auf ſchlanken Stiehlen anmuthig ſchaukelten,
die erſten friſchghrünen Grashalme neugierig hervor-
lugten. Die niedrigen Strohdächer der Hütten —
Karl Karlowitſch meinte, ſie ſähen wie Pilze aus —
ſchienen ſich behaglich unter den Sonnenſtrahlen zu
ducken, die kleinen, in die Wände gedrückten Fen-
ſterſcheiben glitzerten ſo luſtig und verſchmitzt, wie
die Augen eines Koſaken, wenn es etwas zu mauſen
gibt. An ſolchen Tagen gewährt das Reiſen in
dieſen Steppen einen unausſprechlichen Reiz; man
ſchüttelt mit einem Ruck allen Formenzwang des
Lebens ab, und athmet in ungebundener Freiheit
auf im Angeſicht der blühenden Unendlichkeit, in
die man ſcheinbar ziellos hineinfährt.
 
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