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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 144 - No. 155 (2. December - 30. December)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Mittwoch, den 16. December

1868.

Die Wahrheit.

Eine Erzählung.

(Fortſetzung.)
Zweites Capitel. ö
Die Wahrheit wird euch freimachen.
Karl Stillfried wohnte bei ſeinem unverheira-
theten Onkel Chriſtian Gottlieb Stillfried und deſ-
ſen unverheiratheten Schweſter Marie Sophie, von
welchen beiden ehrenwerthen Perſonen wir hier wei-
ter nichts zu ſagen brauchen, als daß ſie zwei ganz
gewöhnliche Exemplare aus der Klaſſe der alten
Junggeſellen und alten Jungfern waren — behäbig
und wohlbeleibt wie die meiſten Leutchen dieſer Art
in den Jahren zwiſchen fünfzig und ſechzig, gut-
müthig, wenn ihnen Niemand die Laune verdarb,
und freundlich und freigebig gegen ihren Neffen,
wenn er that, was ſie haben wollten.
Da Karl an dieſem Sonntage, nachdem er ſich
von ſeinem Freunde getrennt, einen ziemlich weiten
Ausflug über Land machte, ſo waren ſein Onkel
und ſeine Tante, als er Abends nach Hauſe kam,
ſchon zu Bett und er begab ſich daher ſofort auf
ſein Zimmer, um ſich ebenfalls ſchlafen zu legen,
ohne die Stürme zu ahnen, welche infolge der von
ihm übernommenen Verpflichtung gegen ihn im
Anzuge waren.
Am nächſtfolgenden Morgen ſtand er zur ge-
wohnten Stunde auf, kleidete ſich an und ging hin-
unter in das gemeinſchaftliche Wohnzimmer, wo er
ſeine Tante mit Bereitung des Frühſtücks beſchäf-
tigt fand, während ſein Onkel die Zeitung las.
„Guten Morgen, Tante! Guten Morgen On-
kel! Wie iſt das Befinden heute?“
„Ach, guten Morgen, Karl“, antwortete der
Onkel. „Ich befinde mich ſehr wohl — du dich
doch auch?“ ö
„Ja wohl, ich danke“, ſtand Karl im Begriff
zu ſagen; er fühlte aber, daß er infolge einiger im
Laufe des vergangenen Nachmittags und Abends zu
viel genoſſenen Seidel ſtarken Bieres etwas Kopf-
weh hatte, und da ihm zugleich einftel, daß er ſich'
verbindlich gemacht, nur die Wahrheit zu ſprechen
und ſich folglich auch aller herkömmlichen Unwahr-
eiter u ic föhl ſo antwortete er:
„Nein, ich fühle mich nicht recht wohl;
Kopfſchmerzen.“ hu reczt wohtzich habe

immer beſſer!

„Wie? Kopfſchmerzen? Du mein Himmel,
was ſeid Ihr jungen Leute doch jetzt für Schwäch-
linge! Als 0 ſo alt war wie du, wußte ich gar
nicht, daß ich überhaupt einen Kopf hatte. Und
auch jetzt noch — ſieh' mich an — wie rüſtig und
wohl ſehe ich aus!“ ö ö
„Ja, das iſt wahr!“ wollte Karl ſagen, aber
er beſann ſich, daß er auf jede an ihn gerichtete

Bemerkung nur der Wahrheit gemäß antworten

durfte, und deshalb entgegnete er:
„Ich glaube nicht, daß dein Ausſehen ein ganz
gutes iſt, Onkel!“
„Wie? Was? Was willſt du damit ſagen?
Was findeſt du an mir auszuſetzen?“
„Du biſt zu dick, lieber Onkel, dein Hals iſt
zu kurz, dein Geſicht zu roth und — und —“
„Du meinſt, ich hätte Ausſicht, über kurz oder
lang vom Schlage gerührt zu werden?“ ö
„Allerdings!“ ö ö
„Wie!“ rief der alte Mann erſchrockem und
entrüſtet.
„O Karl, wie kannſt du ſo etwas ſagen!“ rief
ſeine Tante beſtürzt. ö
„Der Onkel fragte mich und ich ſagte ihm die
Wahrheit“, entgegnete der junge Mann in ſehr
ſanftem Tone. ö ö ö
„Ich glaube gar, er wünſcht mir den Tod!“
rief der alte Mann. ö
„Nein, Onkel, das iſt nicht der Fall. Dein
Tod würde mich ſehr betrüben!“
„So, ſo — die fette Erbſchaft aber, die du
von mir erwarteſt, würde dich wahrſcheinlich gleich-
zeitig auch ſehr erfreuen, nicht wahr?“
„Allerdings!“ antwortete der Wahrheitsfreund.
„Ha!“ rief der alte Mann, indem er aufſprang
und im Zimmer auf⸗ und abging, „das wird ja
Was ſoll dieſes Benehmen heißen,
Burſche?“ fragte er, indem er plötzlich vor ſeinem
Neffen ſtehen blieb und vor verhaltener Wuth zit-

terte. —

Ich will blos ohne Furcht oder Gunſt die
Wahrheit reden.“
„O du undankbarer Wicht!“ rief der alte Mann
und bebte an allen Gliedern.
„O Karl“, rief die Tante, „wie kannſt du dich
ſo abſcheulich benehmen! Womit haben wir das
an dir verdient?“ *
„Ich rede blos die Wahrheit, Tante!“
 
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