Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1868

DOI chapter:
No. 78 - No. 91 (1. Juli - 31. Juli)
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43665#0319

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

* 78.

Mittwoch, den 1. Juli

Eſtella.

Novellette nach dem Engliſchen von A. K.
(Fortſetzung.)

IV.
Eines Tages, als ich allein im Muſikzimmer
ſaß — meine Tante hatte mir erlaubt, mich ſo viel
zu üben, als ich Luſt hätte — trat Couſin Geoffrey
ein. Er wartete auf Eſtella, welche auf ihr Zim-
mer gegangen war, um ihr Reitkleid anzulegen
und ihren Hut aufzuſetzen. Ich hörte ſofort auf
zu ſpielen.
„Warum ſpielſt Du nicht weiter?“ fragte er.
„Es war nichts, was Dir gefallen würde“, ant-
wortete ich. ö

„Wer weiß, ob mir nicht vielleicht Alles gefällt,

was Du ſpielſt“, entgegnete er.
Ich ſchüttelte den Kopf. ö
„Kleine Mabel“, rief er plötzlich, „haſt Du je-
mals geliebt?“
Dieſe Frage überraſchte mich nicht wenig, ich
antwortete aber ſofort:
„Nein.“ ö
„Glaubſt Du, daß Du lieben könnteſt?“
Er hatte ſich, indem er dieſe Frage that, mir
genähert und ſah mich erwartungsvoll an, ſo er-
wartungsvoll, daß ich fühlte, wie ich erröthete.
Gerade in dieſem Augenblick trat Eſtella in das
Zimmer. Ein zorniger Blitz zuckte aus ihrem
Auge. Es that mir leid, daß Eſtella ſonach ärger-
lich war. Ich glaubte vielleicht, ſie bildete ſich ein,
wir hätten von ihr geſprochen.

Am nächſtfolgenden Tage forderte Couſin Geof-

frey mich auf, mit ihm ſpazieren zu reiten, und
ich freute mich darüber ſo ſehr, daß ich ſofort die
Treppe hinaufeilte, um mich anzukleiden. Ich
konnte aber den Reitrock nirgends finden. Gerade
in dieſem Augenblicke ging Eſtella an meiner Thür
vorüber und ich wagte, ſie darnach zu fragen, ob-
ſchon ich ihr am Geſicht anſah, daß ſie ſehr ärger-
lich über etwas war. ö
„Es iſt ſchade“, ſagte ſie in kaltem Tone, „daß
mein Reitkleid Dir nicht paßt, „denn jenen Rock
habe ich der Frau des Gärtners gegeben, damit ſie
Jacken für ihre Knaben daraus mache.“
Und ohne ein Wort hinzuzufügen, ſchwebte ſie
weiter den Corridor entlang.

Ich fühlte mich ſo ſchmerzlich enttäuſcht, daß ich
nahe daran war, zu weinen, während ich langſam
zu Couſin Geoffrey zurückkehrte. Es war dies das
erſte Mal, daß ich ſein ſchönes Geſicht je einen
wirklich zornigen Ausdruck annehmen geſehen: dies
war aber jetzt, nachdem ich ihm meine Verlegenheit
auseinander geſetzt, der Fall. ö
„Laß es nur gut ſein, kleine Mabel“, ſagte er,
„Du ſollſt trotzdem mitreiten. Warte eine Stunde,
dann bin ich wieder bei Dir.“ ö
Nach Verlauf einer Stunde kam er wieder zu-
rück und hielt mit triumphirender Miene einen
dunkelgrauen Reitrock in der Hand.
„Du mußt ein Hexenmeiſter ſein,“ ſagte ich, in-

dem ich ihm den Rock abnahm.

Er lachte und ſagte: ö
„Ein Herenmeiſter, welcher Zeit, ein gutes
Pferd und eine gefällige Freundin hat, kann Wun-
der verrichten.“
Ich eilte hinauf in mein Zimmer und legte das
Kleid an. Als ich wieder herunterkam, ſtand Cou-
ſin Geoffrey bereit, mich auf das Pferd zu heben,

und als wir fortritten, ſahen wir Eſtella an ihrem

geöffneten Fenſter ſtehen. Sie lächelte, und nickte
Couſin Geoffrey zu, mir aber kam es vor, als
leuchtete aus ihrem Auge wieder derſelbe zornige
Blitz, den ich am Tage vorher bemerkt.
BiSr hatten einen herrlichen Ritt und ich ent-
ſinne mich aller Einzelheiten deſſelben noch ganz
genau, denn es war der letzte.
Ich wußte nicht gewiß, ob Couſin Geoffrey auf
übler Laune wäre oder nicht; gegen mich aber we-
nigſtens war er ganz derſelbe wie von je, oder
vielleicht nur noch zärtlicher als gewöhnlich. Von
Eſtella ſprach er kein Wort und es fiel mir auf,
daß er dieſes Thema offenbar mit Fleiß vermied.
Er war aber ſtets unterhaltend und wußte über
eine Menge Gegenſtännde und Begriffe auf die in-
tereſſanteſte Weiſe zu ſprechen.
Dieſer Tag ward noch durch zwei andere Er-
eigniſſe merkwürdig gemacht.
Das eine beſtand darin, daß, als ich nach un-
ſerer Rückkehr im Garten ſpazieren ging, ich plötz-
lich auf Couſin Geoffrey und Eſtella ſtieß. Sie
ſprachen ſehr eifrig mit einander, ſo eifrig, daß ſie,

wie ich glaube, mich nicht einmal ſahen. Auch bog

ich bei ihrem Anblick ſofort nach einer andern Rich-
 
Annotationen