Heidelberger Familienblätter.
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
V 80.
Sonntag, den 5. Juli
1868.
Eſtella.—
Novellette nach dem Engliſchen von A. K.
Fortſetzung.)
VI.
Am nächſtfolgenden Tage ſchien Eſtella dieſelbe
zu ſein wie gewöhnlich, und ſo verging eine Woche.
Eines Abends ging ich wieder in meiner Lieb-
lingsallee ſpazieren, als ich zu meiner Verwunde-
rnug nahende Tritte vernahm. Es war gegen acht
Uhr und da die Allee, wie ich ſchon früher er-
wähnt, eine ziemliche Strecke vom Hauſe entfernt
war, ſo konnte ich mich einer Anwandlung von
Furcht nicht erwehren.
„Du brauchſt Dich nicht zu fürchen, kleine
Mabel“, ſagte eine Stimme, und ich erkannte Cou⸗—
ſin Geoffrey in dem Nahenden.
„Couſin Geoffrey!“ rief ich. „Hier! — zu
dieſer Stunde!“
Er ergriff mich bei der Hand und ſagte in ern-
ſtem Tone: ö
„Ich wünſchte Dich zu ſprechen. Ich habe ſchon
den ganzen Nachmittag auf Dich gewartet und
dachte mir ſchon, daß Du heute Abend hierher
kommen würdeſt.“
Ich war neugierig, zu wiſſen, warum Couſin
Geoffrey mich zu ſprechen wünſchte, und ich ahnte
gewiſſermaßen, daß ſich etwas ereignen würde.
ö „Kleine Mabel“, fuhr er fort, „ich weiß, daß
ich Dir vertrauen kann. Ich bin heute Abend
hierher gekommen, weil ich wünſche, daß Du et-
was thuſt. Willſt Du mir verſprechen, es zu
thun, ohne deswegen weitere Fragen an mich zu
richten 2“
Ich verſprach es. Ich würde ſonſt etwas ver-
ſprochen haben, ſobald es nur Couſin Geoffrey von
mir verlangt hätte.
Er zog ein verſiegeltes Couvert aus der Bruſt-
taſche ſeines Rockes.
„Willſt Du das Eſtella geben?“ ſagte er. „Willſt
Du es ihr heute Abend geben, wenn ſie in ihrem
Zimmer und allein iſt?“
Ich ergriff das Couvert. Es hatte weiter keine
Adreſſe, als die einfache Aufſchrift: „Für Eſtella.“
„Ich darf nicht länger bleiben“, fuhr Couſin
Geoffrey fort. „Ich kann Dir auch jetzt keine wei-
tere Erklärung geben, verſpreche Dir aber, ſo Gott
will, Dir künftig einmal den Grund meines ſelt-
ſamen Beſuchs hier heute Abend mitzutheilen. Der
Himmel ſegne Dich, kleine Mabel!“
Und ehe ich Zeit hatte, noch ein Wort zu ſpre-
chen, war er fort. ö
Ich ging ſogleich nach Hauſe. Ich fürchtete
mich, noch länger allein im Freien zu weilen. Mein
Leben hatte angefangen, ein ungewöhnliches zu wer-
den. Ich trug das geheimnißvolle Couvert mit
mir herum, bis die Zeit zum Schlafengehen kam,
und dann wartete ich in meinem Zimmer, bis ich
glaubte, Eſtella würde ihre Zofe entlaſſen haben.
Gegen zwölf Uhr machte ich mich auf, meinem Ver-
ſprechen zu genügen.
Eſtellas Zimmer befand ſich gerade auf der
entgegengeſetzten Seite des Hauſes, nämlich in einem
der Flügel, während das meinige in dem andern
war. So ſeltſam es auch ſcheinen mag, war ich
doch nie in Eſtellas Zimmer geweſen; ſie hatte mich
niemals aufgefordert, ſie dort zu beſuchen.
Ich pochte leiſe an und ſobald ich den Ruf:
„Herein!“ vernommen, trat ich ein.
Wie ſeltſam kam dieſes Zimmer mir vor! Gund-
ringham war ein ſehr altes Haus, dieſes Zimmer
aber ſah älter aus, als irgend ein anderer Theil
dieſes Gebäudes. Die Wände waren mit verſchoſ-
ſenen Tapeten überkleidet und auf der einen Seite
ſtand ein ſonderbar geformter alter Schrank von
Eichenholz. Der auffälligſte Gegenſtand von allen
aber war ein großes, ſchön geſchnitztes ſchwarzes
Crucifix mit einem Betſchemel darunter, deſſen
ſchwarzer Sammetüberzug durch fortwährendes
Knieen darauf fadenſcheinig geworden war.
Eſtella ſaß am Kamin, in welchem, obſchon die
Nacht ſehr warm war, die Aſche eines niederge-
brannten Feuers glomm. Sie hatte ſich in ein
geſticktes Caſchmir-Neglige gehüllt, während die
Maſſen ihres rabenſchwarzen Haares über ihre
Schultern herabhingen. ö
Als ſie mich erblickte, ſtutzte ſie und ſagte im
Tone großer Ueberraſchung: ö
„Du, Mabel! Und zu dieſer Stunde??
Ich ſchloß die Thür hinter mir und ſchob den
Riegel vor.
„Ich komme, Eſtella“, ſagte ich, „weil ich ver-
ſprochen habe, Dir dieſen Brief zu geben, und
zwar wenn Du allein wäreſt.“ ö
Sie ergriff das Couvert mit zitternden Fingern
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
V 80.
Sonntag, den 5. Juli
1868.
Eſtella.—
Novellette nach dem Engliſchen von A. K.
Fortſetzung.)
VI.
Am nächſtfolgenden Tage ſchien Eſtella dieſelbe
zu ſein wie gewöhnlich, und ſo verging eine Woche.
Eines Abends ging ich wieder in meiner Lieb-
lingsallee ſpazieren, als ich zu meiner Verwunde-
rnug nahende Tritte vernahm. Es war gegen acht
Uhr und da die Allee, wie ich ſchon früher er-
wähnt, eine ziemliche Strecke vom Hauſe entfernt
war, ſo konnte ich mich einer Anwandlung von
Furcht nicht erwehren.
„Du brauchſt Dich nicht zu fürchen, kleine
Mabel“, ſagte eine Stimme, und ich erkannte Cou⸗—
ſin Geoffrey in dem Nahenden.
„Couſin Geoffrey!“ rief ich. „Hier! — zu
dieſer Stunde!“
Er ergriff mich bei der Hand und ſagte in ern-
ſtem Tone: ö
„Ich wünſchte Dich zu ſprechen. Ich habe ſchon
den ganzen Nachmittag auf Dich gewartet und
dachte mir ſchon, daß Du heute Abend hierher
kommen würdeſt.“
Ich war neugierig, zu wiſſen, warum Couſin
Geoffrey mich zu ſprechen wünſchte, und ich ahnte
gewiſſermaßen, daß ſich etwas ereignen würde.
ö „Kleine Mabel“, fuhr er fort, „ich weiß, daß
ich Dir vertrauen kann. Ich bin heute Abend
hierher gekommen, weil ich wünſche, daß Du et-
was thuſt. Willſt Du mir verſprechen, es zu
thun, ohne deswegen weitere Fragen an mich zu
richten 2“
Ich verſprach es. Ich würde ſonſt etwas ver-
ſprochen haben, ſobald es nur Couſin Geoffrey von
mir verlangt hätte.
Er zog ein verſiegeltes Couvert aus der Bruſt-
taſche ſeines Rockes.
„Willſt Du das Eſtella geben?“ ſagte er. „Willſt
Du es ihr heute Abend geben, wenn ſie in ihrem
Zimmer und allein iſt?“
Ich ergriff das Couvert. Es hatte weiter keine
Adreſſe, als die einfache Aufſchrift: „Für Eſtella.“
„Ich darf nicht länger bleiben“, fuhr Couſin
Geoffrey fort. „Ich kann Dir auch jetzt keine wei-
tere Erklärung geben, verſpreche Dir aber, ſo Gott
will, Dir künftig einmal den Grund meines ſelt-
ſamen Beſuchs hier heute Abend mitzutheilen. Der
Himmel ſegne Dich, kleine Mabel!“
Und ehe ich Zeit hatte, noch ein Wort zu ſpre-
chen, war er fort. ö
Ich ging ſogleich nach Hauſe. Ich fürchtete
mich, noch länger allein im Freien zu weilen. Mein
Leben hatte angefangen, ein ungewöhnliches zu wer-
den. Ich trug das geheimnißvolle Couvert mit
mir herum, bis die Zeit zum Schlafengehen kam,
und dann wartete ich in meinem Zimmer, bis ich
glaubte, Eſtella würde ihre Zofe entlaſſen haben.
Gegen zwölf Uhr machte ich mich auf, meinem Ver-
ſprechen zu genügen.
Eſtellas Zimmer befand ſich gerade auf der
entgegengeſetzten Seite des Hauſes, nämlich in einem
der Flügel, während das meinige in dem andern
war. So ſeltſam es auch ſcheinen mag, war ich
doch nie in Eſtellas Zimmer geweſen; ſie hatte mich
niemals aufgefordert, ſie dort zu beſuchen.
Ich pochte leiſe an und ſobald ich den Ruf:
„Herein!“ vernommen, trat ich ein.
Wie ſeltſam kam dieſes Zimmer mir vor! Gund-
ringham war ein ſehr altes Haus, dieſes Zimmer
aber ſah älter aus, als irgend ein anderer Theil
dieſes Gebäudes. Die Wände waren mit verſchoſ-
ſenen Tapeten überkleidet und auf der einen Seite
ſtand ein ſonderbar geformter alter Schrank von
Eichenholz. Der auffälligſte Gegenſtand von allen
aber war ein großes, ſchön geſchnitztes ſchwarzes
Crucifix mit einem Betſchemel darunter, deſſen
ſchwarzer Sammetüberzug durch fortwährendes
Knieen darauf fadenſcheinig geworden war.
Eſtella ſaß am Kamin, in welchem, obſchon die
Nacht ſehr warm war, die Aſche eines niederge-
brannten Feuers glomm. Sie hatte ſich in ein
geſticktes Caſchmir-Neglige gehüllt, während die
Maſſen ihres rabenſchwarzen Haares über ihre
Schultern herabhingen. ö
Als ſie mich erblickte, ſtutzte ſie und ſagte im
Tone großer Ueberraſchung: ö
„Du, Mabel! Und zu dieſer Stunde??
Ich ſchloß die Thür hinter mir und ſchob den
Riegel vor.
„Ich komme, Eſtella“, ſagte ich, „weil ich ver-
ſprochen habe, Dir dieſen Brief zu geben, und
zwar wenn Du allein wäreſt.“ ö
Sie ergriff das Couvert mit zitternden Fingern