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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 1 - No. 14 (1. Januar - 31. Januar)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Freitag, den 3. Januar

1868.

Poste réestante.
Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody.

(Fortſetzung.)
Zu der Zeit, als unſere Erzählung beginnt,
feſſelten ihn vermehrte Arbeiten an die Stadt; er
pflegte indeß regelmäßig jeden Sonnabend zu kom-
men und den Sonntag in Argyll's Hauſe zuzu-
bringen. Im Dezember, am neunzehnten Geburts-
tage Eleanor's, ſollte dieſe nun zweijährige Be-
kanntſchaft durch die Vermählung gekrönt werden.
Henry Moreland war in der Regel fünfzehn
Minuten nach Ankunft des Abendzugs im Hauſe;
ich konnte daher, als eine weitere halbe Stunde
verging, ohne daß er dießmal erſchien, bemerken,
mit welcher nervöſen Aufregung ſeine Braut mit
ihrer Uhrkette ſpielte und wie ihre Finger zuckten,
obſchon ſie die Augen feſt auf ihr Buch gerichtet
hielt. „Kommt, laßt uns den Thee nehmen, ich
bin hungrig,“ ſagte endlich Mr. Argyll, aus dem
Bibliothekzimmer tretend. „Ich habe nach dem
Mittageſſen einen langen Ritt gemacht, und zudem,
liebe Eleanor, nützt es nichts zu warten; er wird
heute Abend nicht kommen.“ Dabei ſtreichelte er
ihr tröſtend die Wange, indem er mit ſcherzendem
Spott hinzufügte: „Ein Bischen Regenſchauer
pflegte, als ich noch jung war, keinen Liebhaber
abzuhalten.“ — „Ein Bischen Regenſchauer, Papa?“
eiferte Eleanor. „Ich habe nie ſolche Ströme vom
Himmel kommen ſehen. Uebrigens kann es doch
nicht das Gewitter geweſen ſein, was ihn abhielt,
denn er hätte ſchon vor deſſen Ausbruch den Bahn-
hof erreicht.“ — „Gewiß, er wird eine andere und
jedenfalls auch triftige Urſache gehabt haben; das
iſt recht, Ella, daß Du Deinen Verlobten verthei-
digſt. Aber vergiß nicht, es kann in Newyork
ſchon vorher geregnet haben, denn das Gewitter
kam aus dieſer Richtung ... Ich glaube, James
iſt vor Langeweile eingeſchlafen.“ — „Das werde
ich ſogleich unterſuchen!“ rief Mary luſtig, indem
ſie zu James hineilte und ihm die Hand vom Ge-
ſicht zog. „Was iſt mit Dir geſchehen?“ fügte ſie
erſtaunt hinzu, denn das Geſicht des Neffen war
aſchfahl, und ſeine Augen glühten wie feurige Koh-

len. — „O nichts, gar nichts,“ erwiederte er, ſich
ſchnell aufraffend. „Ich war nur halb eingeſchla-
fen . .. Kann ich die Ehre haben, Mary?“
fragte er mit augenſcheinlich erzwungener Heiterkeit,
indem er der jüngeren Schweſter den Arm bot, um
ſie zur Tafel zu geleiten, an welcher Eleanor den
Vorſitz führte.
Die wohldurchwärmte Atmoſphäre des Speiſe-
zimmers, der Glanz der Lichter und des Silber-
zeugs, der zarte ſüße Duft der Chokolade und der
mehr aromatiſche des Thees, vor Allem aber Ma-
ry's Fröhlichkeit waren geeignet, unſere Gedanken
von dem düſtern Wetter abzulenken. Selbſt Elea-
nor ſchien in eine mildere Stimmung zu kommen,
obſchon es ihr Mühe koſtete, die Thränen aus ih-
ren Augen zu bannen; ſie machte eine Anſtrengung,
heiter zu ſein, und war ſo liebenswürdig wie im-
mer. Ich bemerkte wohl, daß ihre Hoffnung ſich
noch an einzelne Möglichkeiten klammerte; erſt
glaubte ſie, Moreland ſei durch irgend einen Um-
ſtand im Dorfe zurückgehalten worden, und als der
dahin geſandte Wagen leer wiederkehrte, vermuthete
ſie, daß ihr Bräutigam wenigſtens durch die Poſt
ein ſein Ausbleiben rechtfertigendes Billet geſchickt
habe. Sie beſtand alſo darauf, daß trotz des üblen
Wetters ein Bote zum Poſtamte des Dorfes laufe
und nachfrage. Daß auch dieſer Verſuch nicht mit
Erfolg belohnt ward, berührte ſie tiefer, als ſie ſich
wollte anmerken laſſen. Die Heiterkeit, welche ſie
zur Schau trug, war nur ein um ſo ſichereres Merk-
mal ihrer inneren Betrübniß. Sie ſang, was von
ihr verlangt ward, und ſpielte mehrere reizvolle
Kompoſitionen. Selbſt auf Scherz ging ſie ein
und machte witzige Bemerkungen, welche die Lach-
luſt der Geſellſchaft erregten. Ihre Wangen blüh-
ten wie Roſen, ihre Augen leuchteten wie
Sterne, und doch war ihre Erregung in Grunde
nicht wirklich heiterer Art — ſie war ein Produkt
des Stolzes und der Ambition. Im Stillen be-
dauerte ich faſt, daß Moreland nicht da war, um
zu fehen, wie bezaubernd und wie glänzend gerade
in dieſem erkünſtelten Zuſtande ihre Gaben ſich
entfalteten. Am Ausgelaſſenſten unter Allen war
James, aber je ſtärker er auftrug, deſto erſichtlicher
ward es mir, dem aufmerkſamen Beobachter, daß
ſeine Luſtigkeit Alles, nur nicht natürlich war. Bei
Eleanor fand ich die Gezwungenheit begründet, bei
ihm war ſie mir ein Räthſel, wenn ſich nicht
 
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