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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 78 - No. 91 (1. Juli - 31. Juli)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

X ZI.

Mittwoch, den 8. Juli

1868.

Eſtella.

Novellette nach dem Engliſchen von A. K.
(Fortſetzung.) ö

VII.
Kaum bin ich im Stande, die öden langweili-
gen Wochen und Monate, welche vergingen, ehe ich
eins von meinen Verwandten wiederſah, mir in die
Erinnerung zurückzurufen.
Ich hatte keine Geſellſchaft und nichts zu thun,
ſo daß ich in dem Hauſe und der nächſten Um-
gebung deſſelben umherwanderte, bis ich auf eine
Menge krankhafte Gedanken kam, deren ich mich
nicht wieder entſchlagen konnte. ö
So bildete ich mir zum Beiſpiel ein, daß ich
jeden Abend, wenn ich zum Fenſter hinausſchaute,
Eſtellas Lampe in ihrem Zimmer brennen und ihren
Schatten ſich darin hin⸗ und herbewegen ſähe.
Natürlich war dies pure Einbildung, denn ich
fand, daß nie Jemand in dieſes Zimmer kam, da
Eſtella es zugeſchloſſen und den Schlüſſel mitge-
nommen hatte.
Auch die Bäume ſchienen in dem heftigen Herbſt-
winde zu ſtöhnen und zu ſchauern und ihre ge-
ſpenſtiſchen Arme hin und her zu werfen, bis ſie
ſeltſame phantaſtiſche Geſtalten gewannen, während
das welke, dürre Laub die Baumgänge hinabwir-
belte, als ob es von einem böſen Geiſt gejagt
würde.
Ich ſah mich genöthigt, den größten Theil mei-
ner Zeit im Zimmer zuzubringen, denn zuweilen
ſchlug mehrere Tage lang ein ſchwerer anhaltender
Regen an die Fenſter, ſo daß für mich an Aus-
gehen nicht zu denken war. —
Die Haushälterin, deren Obhut ich übergeben
worden, war ſehr freundlich und ehrerbietig, leider
aber auch ſehr alt und ſehr taub und folglich kaum
als Geſellſchaft zu betrachten. Die meiſten anderen
Diener waren entlaſſen worden, ſo daß die alte
Frau und ich beinahe ganz allein im Hauſe waren.
Zuweilen — denn ſie hatte ſtets im Dienſte
der Verecrofts von Gundringham gelebt — er-
zahlte ſie mir Geſchichten von Denen, welche ſie in
ihrer Jugend gekannt — Verecrofts, die ſchon

lange todt waren und in der Familiengruft ſchlie-

fen und von welchen jetzt blos noch die Bildniſſe
da waren. ‚ *

Es waren dies keine erheiternden Geſchichten;
ich glaube aber, die alte Haushälterin verweilte
vorzugsweiſe gern bei Allem, was grauenhaft oder
geheimnißvoll war.
Meine Tante Verecroft hatte mir verboten, über
das Parkthor hinauszugehen, doch fand von dieſer
Regel eine Ausnahme ſtatt, und zwar Sonntags.
An dieſem Tage wohnten die alte Haushälterin und
ich dem Gottesdienſt in einer kleinen Kirche bei,
welche zu dem ungefähr eine halbe Meile entfern-
ten Dorfe gehörte.
Eines Sonntags, kurz vor Weihnacht, als ich
in dem der Familie Verecroft gehörenden Betſtuhle
kniete, blickte ich zufällig einmal auf und erſchrak
förmlich, als ich Couſin Geoffrey ſah, der mir ge-

genüber auf der andern Seite der Kirche ſaß und

mich aufmerkſam beobachtete.
Einen Augenblick lang bildete ich mir ein, es
ſei eine meiner häufigen Sinnestäuſchungen, ich
ſah aber, daß die Haushälterin ihn auch bemerkt
hatte.
Worte wären nicht im Stande, meine Freude
zu ſchildern. Es war mir, als müßte ich in Thrä-
nen ausbrechen, und erſt jetzt ſah ich vollſtändig
ein, wie elend ich früher geweſen. Ich konnte es
kaum erwarten, bis der Gottesdienſt vorüber war.
Couſin Geoffrey ſtand an der Thür und war-
tete auf uns.
„Ich bin wieder da, kleine Mabel“, ſagte er.
Und mit dieſen Worten zog er meine Hand
durch ſeinen Arm und wir gingen mit einander
heimwarts durch den PSark. *
ein, nicht hinein“, bat ich, als er auf das
Haus zuſchreiten wollte. Wir bogen daher ſeit-
wärts ab und lenkten unſere Schritte nach der al-
ten Allee.
Kleine Mabel“, ſagte Couſin Geoffrey, „Du
ſiehſt bleich und unglücklich aus.“
Nun konnte ich nicht länger an mich halten,
ſondern brach in Thränen aus. Wie angenehm
war es, von Couſin Geoffrey getröſtet und beſchwich-
tigt zu werden! Wie oft hatte ich ſtundenlang ge-
weint, ohne daß Jemand auch nur darauf geachtet
hätte! Dennoch bemühte ich mich, dem Schluchzen,

welches mich zu erſticken drohte, Einhalt zu thun,

denn ich fürchtete, Couſin Geoffrey koͤnne ſich da-

durch unangenehm berührt fühlen.

„Jetzt bin ich nicht unglücklich“, ſagte ich, ſo-
 
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