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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 15 - No. 26 (2. Februar - 28. Februar)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 15.

Sonntag, den 2. Februar

1868.

Poste restante.
Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody.

(Fortſetzung.)

Ich ſann über den Inhalt des Briefes nach;
hinter der konfuſen Faſſung deſſelben ſchien ſich ein
tieferer Sinn zu bergen. Doch nicht dieß, ſondern

die unerklärbare, mich wie mit Zauberkraft packende

Ahnung, daß dieſer Brief und die Perſönlichkeiten,
auf welche er ſich bezog, mit den Verbrechen meiner
Geſchichte in Verbindung ſtanden, verſetzte mich in
ungeheure Aufregung. Ich verſuchte es, den Ge-
danken als unvernünftig zu verſcheuchen, aber er
wich nicht, er erfüllte meine Phantaſie mit wirren
Bildern, welche mehr und mehr an Geſtaltung ge-
wannen. Die geheimnißvolle Stimme der Ahnung
hat in der Reihe der unerklärlichen, unerforſchlichen
Naturkräfte eine hohe Bedeutung und es gibt ſicher
nur wenige Menſchen, die in Zweifel und Unglau-
ben feſt genug ſind, ſie zum Schweigen zu bringen.
Je mehr ich mich mit dem ſeltſamen Briefe be-
ſchäftigte, deſto gewiſſer ward es mir, daß er in
meiner Hand zu einem Werkzeug gegen den unent-
deckten Moͤrder und ſeine Mitwiſſer werden müſſe.
Ich konnte mir den Zauber dieſer Gedankenrich-
tung nicht erklären, ich konnte aber auch nicht wi-
derſtehen. Die Vorſehung ſchien bei dieſem Ge-
heimniſſe ihre Hand im Spiele zu haben. Nach
gewöhnlichem Geſchäftsgange hätte der Brief drei
Monate nach ſeinem Einlaufen in Peekſkill und
nachdem ſich ſeine Unanbringlichkeit herausgeſtellt
hatte, nach Waſhington in's dead letter bureau
gelangen, hier geoͤffnet und mit einem Haufen an-
derer verbrannt werden müſſen. Warum dieß erſt
nach zwei Jahren geſchah, mußte wo möglich auf-
geklärt werden, und dieß konnte nur mit Hülfe des
Poſtamtes zu Peekſkill geſchehen.

Eine ganze Nacht hindurch beunruhigte mich

der Brief, den ich zu mir genommen, und bei Ta-
gesanbruch war ich entſchloſſen, ohne Aufſchub
Urlaub zu nehmen und nach Newyork zu reiſen,
um dem Detektive Burton meinen Fund vorzule-
gen. Bei ſo mächtigem inneren Drange, bei einem

ſo lebhaften, unauslöſchlichen Bedürfniſſe meiner
gequälten, tief beleidigten Seele nach Genugthuung
darf es nicht Wunder nehmen, wenn ich wenige
Tage ſpäter bereits auf dem Bahnhofe der nord-
amerikaniſchen Weltſtadt abſtieg. ö
Mein erſter Gang war nach der Straße Num-
mer dreiunddreißig, wo Mr. Burton wohnte. Ich
hatte, nachdem ich mich ihm durch meine Karte
angekündigt, auf ſein Erſcheinen nicht lange zu
warten. Mit einem freudigen Geſichtsausdruck bei
meinem Anblick trat er in's Wohnzimmer. „Will-
kommen, mein Freund!“ rief er mir mit ausge-
ſtreckten Haͤnden entgegen, und der Ton ſeiner
Stimme that meinem Herzen wohl. Er führte
mich in ſein Bibliothekzimmer, nöthigte mich auf
einen Armſtuhl und ließ ſich mir gegenüber nieder.
„Ich errathe, daß Sie mir Neues mitzutheilen
haben,“ fuhr Burton fort. — „Sie haben recht,
Sir. Vielleicht iſt Ihnen bekannt, daß ich mich
ſeit längerer Zeit als Klerk im Departement der

unbeſtellbaren Briefe befinde.“ — „Allerdings,“

verſetzte Burton mit einem feinen, gutmüthigen
Lächeln; „denn Sie müſſen wiſſen, Mr. Redfield,
daß ich Sie nie aus dem Roſenkranze meiner
Freunde habe entſchlüpfen laſſen, ſondern daß ich
mich, obwohl fern von Ihnen, ſtets für Ihr Ge-
ſchick intereſſirt habe.“ — „Ich danke Ihnen für
Ihre Theilnahme, Mr. Burton. Was ich Ihnen
mitzutheilen habe, iſt Folgendes: Vor wenigen Ta-
gen fiel mir bei Ausuͤbung meines Berufs dieſer
Brief in die Hände, der bereits zwei Jahre alt iſt
und mir — ich weiß den Grund dafür nicht zu
ſagen — mit der bekannten traurigen Angelegen-
heit in Verbindung zu ſtehen ſcheint.“
Der Detektive nahm den Brief, muſterte genau
Couvert, Papier und Inhalt und veränderte mitten
in ſeiner ſinnenden Betrachtung den erſten Aus-
druck ſeines Geſichtes in ein heiteres Aufblicken. —
„Ah, Mr. Redfield, dieß iſt ein guter Fund, ein
ausgezeichneter Fund! Er erklärt zum Theil Dinge,
über die ich bereits halb unterrichtet war, und
wahrlich, Sie können die Vorſehung preiſen, daß
Sie in deſſen Beſitz kamen! Wenn ich nicht feſt
an ein oft wunderbares Eingreifen der Vorſehung
in das Schickſal des Menſchen glaubte, dieſer Fall
würde mich dazu bewegen!“ Er durchſchritt, mit
dem offenen Briefe in der Hand, lebhaft das Zim-
mer, warf wiederholt einen Blick hinein, blieb ſin-
 
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