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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 78 - No. 91 (1. Juli - 31. Juli)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

79.

Freitag, den 3. Juli

1868.

Eſtella.

Novellette nach dem Engliſchen von A. K.
(Fortſetzung.)

V.
Den nächſtfolgenden Tag ging ich Couſin Geof-
frey gefliſſentlich aus dem Wege. Nach dem Früh-
ſtück begab ich mich die Treppe hinauf in mein
Zimmer und ging nicht eher wieder hinunter, als
bis ich ihn ſein Pferd beſteigen und fortreiten ge-
ſehen; dann verfügte ich mich in das Muſikzimmer.
Ich war ſeit kaum einer Viertelſtunde hier, als
Couſin Geoffrey eintrat.
„Mabel“, ſagte er, „ich bin wieder umgekehrt.
Es fiel mir ein, daß Du vielleicht Luſt hätteſt,
mitzureiten.“
„Nein, ich danke“, antwortete ich kalt.
Er ſah mich mit dem Ausdruck der Ueber-
raſchung an und ſagte: —
„Willſt Du mir vielleicht ſagen, warum, kleine
Mabel?“
„Weil ich lieber dableiben will“, entgegnete ich.
Er fragte mich nicht wieder; ſeine Miene ver-
rieth aber, daß er ſich verletzt fühlte, und er ver-
ließ das Zimmer, indem er die Thür hinier ſich
zuſchlug. Nach wenigen Minuten hörte ich ſein
fol unter dem Fenſter vorübertraben und er war
fort.
Ich hatte blos einen Augenblick gebraucht, um
auszuſprechen, was ich geſagt, aber ich brachte den
ganzen übrigen Tag damit zu, daß ich es bereute.
Ich hoffte Couſin Geoffrey bei Tiſche wiederzuſehen,
aber ſah mich getäuſcht und hörte nur zufällig im
Laufe des Abends, daß er einen Boten mit der
Meldung geſchickt, er werde einige Tage irgendwo
verweilen — ich glaubte, an demſelben Ort, wo
Eſtella bereits zu Beſuch war. ö ö
Als ich an dieſem Abend zu Bett ging, fühlte
ich mich elender, als ich mich jemals in meinem
Leben gefühlt. Ich weinte mich in den Schlaf und
fand am Morgen mein Kopfkiſſen noch ganz naß
von Thränen. ö
‚„Wohrend der nächſten drei oder vier Tage ſah
ich mich gänzlich auf mich allein angewieſen. Meine
Tante war fortwährend mehr oder weniger kränk-
lich und ich ſah ſie blos dann und wann. Ich
glaube, ich aͤngſtete und beunruhigte mich mehr,

als gut für mich war; auf alle Fälle fühlte ich
mich ſehr unglücklich.
Eines Nachmittags ergriff ich ein Buch und
machte mich auf, um mich damit in meiner Lieb-
lingsallee niederzuſetzen. Es war den ganzen Tag
drückend heiß geweſen und der Aufenthalt unter
den kühlen, ſchattigen Bäumen war ſehr erfriſchend.
Ich legte mein Buch in den Schooß und begann
nachzudenken, anſtatt zu leſen.
Wie lange ich ſo geſeſſen hatte, weiß ich nicht;
als ich aber zum erſten Mal wieder aufjblickte,
ſtutzte ich nicht wenig, als ich Couſin Geoffrey vor
mir ſtehen ſah. Ich fühlte, wie mir die Thränen
in die Augen traten, und ich ſah, daß er dies be-
merkte. ö ö
„Warum biſt Du ſo traurig, kleine Mabel?“
fragte er. ö ö
Ich legte meine Hand auf das Buch, wie um
damit zu verſtehen zu geben, daß ich durch meine
Lectüre in dieſe Stimmung verſetzt worden.
Er nahm mir das Buch aus der Hand, ſah es
an und wendete ſich dann lächelnd wieder zu mir.
Es war ein illuſtrirtes Werk über Botanik. Ich
fühlte, wie meine Wangen dunkelroth erglühten.
„Faſſe Dich, kleine Mabel“, ſagte er dann.
„Komm, wir wollen einen Spaziergang machen.“
Mit dieſen Worten ergriff er meine Hand und
zog dieſelbe in ſeinen Arm.
„Du biſt wieder da“, wagte ich zu ſagen.
Er nickte.
„Um da zu bleiben?“ ſetzte ich hinzu.
„Das kommt darauf an. Wenn Du dableibſt
— ja.“
Ich wußte nicht, was ich dieſen Nachmittag aus
Couſin Geoffrey machen ſollte, aber ich wußte, daß
ich ſehr froh war, ihn wieder zu haben. Unter faſt
fortwährendem Schweigen wandelten wir auf und
ab; dann meinte er, es würde ziemlich ſpät, und
wir lenkten unſere Schritte in der Richtung nach
dem Hauſe.
Hier fand ich, daß Eſtella ebenfalls wieder an-
gekommen war, und ich bekam, abgeſehen davon,
daß es im Hauſe lebendiger geworden zu ſein ſchien,
die Verlobten ſehr wenig zu ſehen.
Am nächſtfolgenden Tage ließ meine Tante mich
rufen und fragte mich, ob ich nicht Eſtellas Braut-
jungfer ſein wollte, denn ſie werde ſich nächſtens
mit Couſin Geoffrey vermählen.
 
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