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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 1 - No. 14 (1. Januar - 31. Januar)
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Heidelberger Familienblätter.

Velletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M4.

Mittwoch, den 8. Januar

1868.

Poste restante.
Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody.

(Fortſetzung.)

Plötzlich vernahm ich ein leichtes Raſcheln der
auf den Boden geſtreuten halbtrockenen Blätter und
gleich darauf ſah ich im Dunkeln einen Schatten,
nein, eine Geſtalt, die ſich vorſichtig, langſam auf
das Haus zu bewegte. Als ſie ſich mehr genähert
hatte und in die Lichtung kam, erkannte ich ſie als
ein weibliches Weſen, mit einem Hute und einem
Shawltuch bekleidet. Sie kam ganz nahe an mir
vorüber, ohne mich zu bemerken, verſchwand wieder
im Dunkeln, wie es ſchien, um ſich zu vergewiſſern,
daß Niemand in der Nähe ſei; dann trat ſie leiſe,
ganz leiſe hervor und ſchlich an das Fenſter des
hinteren Zimmers, in welchem Moreland's Leich-
nam, von Kerzen beleuchtet, ſich befand. An die-
ſem Fenſter beugte ſie ſich nieder, anſcheinend in
knieender Stellung, und blickte lange, lange durch
die Scheiben, wahrend ich mich geräuſchlos ſo weit
als möglich genähert hatte und ſie verſtohlen beob-
achtete. Ihr Geſicht konnte ich nur auf einen
Moment, als ſie, um beſſer hineinſchauen zu kön-
nen, eine halbe Wendung machte, nur theilweiſe
ſehen; doch erhielt ich ſchon durch dieſen flüchtigen
Blick, aber mehr noch durch eine beſtimmte Ah-
nung, das Bewußtſein, daß dieſe Geſtalt daſſelbe
Mädchen war, auf welches mich der Fremde am
Nachmittage aufmerkſam gemacht hatte. Der Ge-
danke, daß ſie mit dem Morde oder dem Gemorde-
ten in irgend einer Beziehung geſtanden habe, lag
zu nahe, als daß ich nicht in allen Fibern haͤtte
erregt werden ſollen. Wohl über eine Stunde
blickte ſie durch das helle Fenſter, ohne Bewegung,
ohne einen Laut; nur einen einzigen ganz leiſen
Seufzer glaubte ich zu hören. Dann trat ſie eben
ſo geräuſchlos, wie ſie ſich genähert hatte, zurück
und ſchlich auf demſelben Wege fort, wieder an
mir vorüber. Ich ſtreckte die Hand aus, im Be-
griff, ſie zu erfaſſen, aber ich that es dennoch nicht,
ſondern beſchloß, ihr unbemerkt zu folgen. Sie
ging durch die geöffnete Pforte aus dem Garten,
dem Zaun entlang nach dem Dorfe, ich immer in

einiger Entfernung ihr nach. Im ärmſten Theile
des Dorfes bog ſie in eine Seitengaſſe und trat
in ein Haus, deſſen Thür noch offen war und in
deſſen Parterre ein mattes Lampenlicht brannte.
Hier ſah ich durch's halberblindete Fenſter, daß das
Mädchen eingetreten war und Hut und Tuch ab-
legte. Eine ärmlich gekleidete Frau erhob ſich vom
Tiſche und ſprach leiſe mit ihr. Ich überzeugte
mich, daß in dieſem Hauſe das Mädchen wohnte,
und kehrte nun mit der Abſicht zurück, am andern
Morgen einen Sicherheitsbeamten auf ſie aufmerk-
ſam zu machen und die Spuren des Verdachts,
dem ſie ſich unzweifelhaft ausgeſetzt hatte, weiter
zu verfolgen.
Als ich in die Allee kam, welche zu dem Haupt-
eingange des Argyll'ſchen Hauſes führte, traf ich

auf James; er fuhr erſchrocken zurück. — „Nun?“

fragte ich. — „Ach, Sie ſind's!“ erwiederte er er-
leichtert. „Ich glaubte, es ſei ...“ — „Ein Ge-
ſpenſt?“ ergänzte ich, als er ſtockte. — „O, ich
bin nicht abergläubiſch!“ verſetzte er mit demſelben
Lachen, womit er am Morgen den Auftrag, Elea-
nor zu unterrichten, abgelehnt hatte. Er ſagte
mir, daß er in der friſchen Luft Kühlung geſucht
habe, ich erklärte kurzweg daſſelbe und begab mich
nach meinem Zimmer, denn es war Mitternacht.

3. Moreland's Villa.

Am folgenden Morgen begab ich mich in Be-
gleitung eines Beamten in Civilkleidern nach dem
betreffenden Hauſe, in welchem ich das Mädchen
hatte verſchwinden ſehen. Das Dorf Blankville
war zwar nicht ſehr groß, aber durch die Eiſen-
bahnſtation und eine Anzahl von Fabrikanlagen in
der Umgegend war eine ziemliche Menge von frem-
den Arbeiterfamilien im Dorfe und deſſen unmit-
telbarer Nähe, und es gab verſchiedene Häuſer,
welche, zu kleinen Wohnungen eingerichtet, weit
über die Dimenſionen gewöhnlicher Bauernhäuſer
hinausgingen. Auch das obengenannte Haus hatte
drei Stockwerke, in welchen nicht weniger als acht
Familien wohnten. Wir klopften an die Thür der
linken Parterrewohnung, eine ſchlicht und harmlos
ausſehende Frau im mittleren Alter öffnete, behielt
aber den Drücker der Thür in der Hand und er-
wartete ſo, daß wir unſer Begehren nennen möch-
ten. Wir traten Beide ein, ehe wir ſprachen. Ein
 
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