Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1868

DOI chapter:
No. 15 - No. 26 (2. Februar - 28. Februar)
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43665#0091

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
geidelberger familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

N.. 21.

Sonntag, den 16. Februar

1868.

Das Gebetbuch meiner Frau.

CFortſetzung. )

„Ich ging auf's Comptoir, holte meinen Koffer,
und fuhr nach der Eiſenbahnſtation mit meinem
neuen Freunde. Es war 4 Uhr 30 und der Zug
fuhr um 4 Uhr 50 ab. Es fiel mir gar nicht
ein, ſo groß war mein Entzücken bei dem Gedanken
an Flucht, zu fragen, was dieſen Mann veran-
laßte, ſich ſo für mich zu intereſſiren. Ich ſaß im
Wartezimmer und hörte ihm zu, wie er ſich über
die Vortheile des von mir ergriffenen Auswegs
erzing, und endlich ſagte er:
„Denken Sie daran,

ob Sie durch irgend

Familienbande oder ſonſt etwas verpflichtet wären,

nicht zu gehen.“
„Verpflichtet nicht zu gehen.“ Mein Entſchluß
war alsbald gefaßt. Ich reichte ihm die Hand,
und ſagte: „Leben Sie wohl. Ich bin Ihnen ſehr
verbunden für die Theilnahme, die Sie mir be-
wieſen haben, aber ich kann nicht gehen.“
„Nicht gehen? Ei, was auf Erden hindert Sie?
Das iſt ja die reine Tollheit, jetzt, mit Ihrem
Billet in der Hand, und 10 Minuten bis zur Ab-
fahrt. „„Ich kann nicht!““ Ei, zum Teufel, ſagen
Sie das nicht.“
„Nein, ich kann nicht gehen, ich will nach dem
Comptoir zurück.“
„Aber, ins Teufels Namen! warum?/
„Weil ich verpflichtet bin, nicht zu gehen.“
Ich bedachte das damals nicht, aber ich verſprach
dem Kerl, dem Beamten, daß ich um 5 Uhr dort
ſein wollte, und ich gedenke da zu ſein.“
„Ei, zum Teufel, einem Polizeibeamten ſein
Wort halten! das thut kein Menſch, davon habe
ich nie gehört.“
ö „Nichts deſtoweniger will ich zurückgehen. Es
wäre mir ſehr unlieb, daß irgend ein Menſch
ſagen könnte, er hätte mir vertraut, und ich hätte
ihn muthwilig betrogen. Nein, ich will zurück-
gehen.“

„Ich ſage Ihnen, Menſch, es iſt Tollheit. Sie

werden es Ihr Leben lang bereuen. Sie können
Ihr Leben verlieren durch dieſen Narrenſtreich.

6 5 Sie nach dem Bahnhof zurück; noch ſind
8 6 Minuten.“

„Nein, ich will nach dem Comptoir gehen. Der
Kerl ſagte zu mir: „„Ich will Ihnen vertrauen;
ich laſſe meinen Ruf in Ihren Händen.““ Ich
verſprach um 5 dort zu ſein. Ich will dort ſein;
ſo, nichts weiter davon. Beruhigen Sie ſich.“
„Ja, ich gehe aber nicht, bis ich Sie in
Sicherheit ſehe; aber von allen Narren, die ich je
geſehen —“
„Genug davon. Kommen Sie zurück, wenn Sie
wollen, ich bin in Ihrer Schuld für Ihre Güte,
obgleich ich nicht weiß, warum Sie mir dieſelbe
bewieſen.“ ö
„O, ſprechen Sie nicht davon; ich bin immer
bereit, einem Mitmenſchen in Noth beizuſtehen,
wenn ich's kann.“
Wir gingen nach dem Comptoir zurück zum
Erſtaunen meiner früheren Commis und traten in
das innere Zimmer.
Es hatte 5 geſchlagen und der Beamte war
noch nicht da.
„Das ſagte ich Ihnen wohl,“ ſagte mein neuer
Freund. „Er wird nicht zur rechten Zeit da ſein.
Das macht Sie frei. Sie ſind ja um 5 hier;
Ihr Verf ſprechen dauert bis 5 und nicht länger.“
Ich war in großer Verſuchung; es klang ſo
ganz wie das rechte, aber ich wollte meine Selbſt-
achtung nicht verwirken. „Nein, ich will warten;
der Mann ließ ſeinen Ruf in meinen Händen und
er ſoll nicht betrogen werden. Wenn er kommt,
bin ich hier und ſoll ich bis Mitternacht warten.
Und ich ſetzte mich entſchloſſen nieder.
„Ich will Ihnen was ſagen, Sie ſollen keine
Minute warten; Sie ſind der beſte Kerl, den ich
je geſehen habe die dreißig Jahre lang; nicht einer
unter Millionen hätte ſich den Teufel gekümmert
um mich und meinen Ruf. Sie haben's gethan,
und es ſoll Ihr Schade nicht ſein.“
Plötzlich warf mein neuer Freund beim Sprechen
ſeine Perrücke, Backen⸗ und Kinnbart fort und
ſtand vor mir als der Polizeibeamte den ich am
Morgen geſehen hatte!!
Ich wußte eigentlich nicht recht, ſollte ich mich
über den Streich ärgern; oder. dankbar ſein, daß
ich ihm nicht in die Falle gegangen war.
„Sie ſehen Herr, ich hatte eine Idee, daß ich
die Sache machen könnte, und ich dachte, ich wollt's
verſuchen; aber hören Sie, Herr, Sie ſollen nicht
darunter leiten, wenn der. ſ ſchlauköpfige Boſton“
 
Annotationen