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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 1 - No. 14 (1. Januar - 31. Januar)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

9.

Sonntag, den 19. Januar

1868.

Poste Testante.

Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody.

CFortſetzung.)

Eleanor war inzwiſchen zwar von ihrem Un-
wohlſein ſo weit geneſen, daß ſie das Bett und
auch das Zimmer verlaſſen konnte, aber ſie erſchien
noch nicht im weiteren Kreiſe der Familie, nament-
lich nicht bei Tiſche, ſo daß mir noch keine Gele-
genheit geworden war, ſie wiederzuſehen. Mary
dagegen, das junge, friſche, heitere Mädchen, konnte
trotz ihres Schmerzes nicht im-Schatten bleiben.
Sie ſprach von ihrer Schweſter nicht anders als
mit Thränen in den Augen, und mein Herz ſeg-
nete ſie dafür; ſie ſorgte mit der liebreichſten Zart-
heit für die Leidende und widmete ihr ein gutes
Theil ihrer Zeit; aber die ſich öffnende Knoſpe
heiſchte auch Sonnenſchein für ſich, ſie fühlte ſich
allein, wenn ſie Eleanor verließ, und ſehnte ſich,
wie ſie ſelbſt ſagte, nach unterhaltender Geſellſchaft.
Einſamkeit und Stille wirkt auf ein jugendliches
Geſchöpf unter den Menſchen wie Kellerluft auf
eine Pflanze. Manchmal entquoll ihren Lippen
ein heiteres Lied, wie der am Morgen aufſteigen-
den Lerche, aber ſie brach es plötzlich ab und endete
mit einem Seufzer. Selbſt das Piano war ihr,
aus Rückſicht auf Eleanor's Seelenzuſtand, entzo-
gen. Ich beklagte ſie im Stillen und verſuchte
es, das Meinige zu ihrer Zerſtreuung beizutra-
gen, entweder durch Geſpräch oder Vorleſen oder
Schachſpiel.
James, der ſonſt immer den ſehr zuvorkom-
menden Ritter zu ſpielen gewohnt war, verfiel mehr
und mehr in düſtere Stimmung, ruhelos, unſtet,
nervös und häufig aufhorchend, aufſchreckend; bald.
nahm er ein Buch, ſchlug es auf, wieder zu und
warf es hin; bald ſchritt er im Zimmer oder im
Säulengange auf und ab, den Blick unruhig um-
herwerfend oder auf den Boden geheftet; bald
blickte er in Gedanken verloren durch's Fenſter
zoder kaute an den Nägeln, und dabei hatte er ein
verwirrtes, mürriſches, bleiches Ausſehen. Mir
lchien es, als erwarte er mit Ungeduld das Wie-
dererſcheinen Eleanor's. Auch ich fühlte oft ine

tiefe Sehnſucht, ſie zu ſehen, aber die Nichtbefrie-
digung derſelben machte mich weder ungeſtüm noch
mürriſch, ſondern hielt mich vielmehr in einer mil-
den, wehmüthigen Spannung.
Eines Nachmittags, als die Sonne des Spät-
herbſtes beſonders freundlich über die Fluren ſchien,
litt es mich nicht mehr im Bureau, eine geheim-
nißvolle Gewalt trieb mich in's Freie. Ich griff
zum Hute und ſchritt Argyllhouſe zu, über die noch
grünen Raſengelände am Hudſon entlang. Ich
kam an eine Stelle am Fluſſe, wo eine Gruppe
von Ahorn und Ulmen einen Pavillon beſchatteten,
der Mr. Argyll gehörte, und wo Eleanor in den
Tagen des Glückes beſonders gern geweilt hatte.
Hier überkam es mich mit inniger Rührung. Der
Geiſt frommer Liebe umwehte mich, unwillkürlich
falteten ſich meine Hände zu einem Gebete für
Eleanor. Lange ſaß ich auf der hölzernen Bank,
wo ſie oft zugebracht, verſunken in Gedanken. Da
raſchelte plötzlich das am Boden verſtreute Laub,
und dieß Geräuſch verband ſich mit dem leiſen
Rauſchen eines Seidenkleides. Ich ſah betroffen
auf — Eleanor ſtand vor mir, gekleidet in tiefes
Schwarz, mit einem Antlitz, bleich und unbewegt,
gleich weißem Marmor. Seltſam, daß das Blut
in meinen Adern ſtockte! Was war aus dem Mäd-
chen geworden! Ein Bild abgeſchiedenen Glückes,
eine erhabene Leidensgeſtalt. Sie reichte mir die
Hand und ſagte ruhig: „Sind Sie wohl, Richard?
Sie ſehen blaß und vergrämt aus. Achten Sie
mehr auf Ihre Geſundheit; es iſt nicht gut, hier
in der kühlen Luft zu ſitzen.“ — Ich drückte ihre
Hand leiſe und mußte mich einige Augenblicke ab-
wenden, um mich zu faſſen und zu ſammeln. —
„Wir können zuſammen nach dem Hauſe zurück-
gehen,“ fuhr ſie fort; „ich fühle mich angegriffen.
Uebrigens verlangte mich's darnach, Sie zu ſehen,
um Ihnen zu danken.“
Die Worte wurden nur mühſam geflüſtert,
dann wendete ſie das Geſicht nach dem Fluſſe, an-
ſcheinend um ihre Bewegung zu bemeiſtern. Sie
ruhte eine kurze Zeit auf der Bank, dann erhob
ſie ſich mit einem tiefen Seufzer und reichte mir
den Arm. Wir gingen langſam, ohne Worte nach
dem Hauſe zu. Eleanor's Auge war immer ge-
ſenkt; plötzlich zuckte es in ihrem Arme, ſie machte
ſich los und beugte ſich raſch zu einem vereinzelten
Penſeblümchen, ihre und Henry's Lieblingsblumen.
 
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