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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 15 - No. 26 (2. Februar - 28. Februar)
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Heidelberger Familienblätter.

Velletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 23.

Freitag, den 21. Februar

1868.

Das Gebetbuch meiner Frau.

(Schluß.)

Der Bote kehrte mit den Geſchwornen zurück,
welche in ihrem Erſtaunen ausſahen, als wären ſie
eben aus dem Schlaf erweckt.
„Meine Herren Geſchwornen,“ ſagte der Rich-
ter, „der Vertheidiger des Angeklagten wünſcht, daß
Sie einen Zeugen vernehmen, der ſich plötzlich ein-
gefunden hat.“ ö
„Eine Zeugin, Herr Richter.“ ö
„Cine Zeugin alſo, die, ſeiner Anſicht nach,
eine wichtige Ausſage in dieſer Sache zu machen
hat. Sie werden ſich ſorgfältig davor bewahren,
der Sache irgend ungehöriges Gewicht beizulegen,
da ſie eine Art Ueberraſchung iſt.“
„Rufen Sie Patrick Murphy herein,“ ſagte
mein Vertheidiger. Murphy kam herein. „Nun,
Sie erinnern ſich, geſchworen zu haben, daß Sie
geſehen, wie der Angeklagte dem Verſtorbenen den
Schlag verſetzt hat.“
„Freilich. Ich ſah ihn ſo deutlich, wie ich Sie
jetzt ſehe. Es war der ſchönſte Vollmond, ſo hell
wie am Tage. Ich weiß gewiß, daß es der Ange-
klagte war.“ ö
„Es war Niemand an Bord, der dem Ge-
fangenen an Geſtalt, Größe oder Kleidung ähn-
lich war?“ ö
„Niemand; überdies habe ich ſein Geſicht ge-
ſehen, ſage ich Ihnen.“
„Rufen Sie Phelin O'Lurra.“ — Er erſchien.
„Sie haben eben geſagt, daß Sie den Angeklagten
ſch Schlag gegen den Verſtorbenen haben führen
ehen.
„Gewiß, Herr. Ich ſah ihn ſo gut, wie ich ihn
jetzt ſehe.“
„Was für eine Art Nacht war es?“
„Voller glänzender Mondſchein; faſt ſo hell,
wie's jetzt iſt.“
„Und war Niemand da, den Sie mit dem An-
geklagten hätten verwechſeln können?“
„Niemand.“
„Wie viel Mann waren an Bord?“
„Dreiundzwanzig, alle mitgezählt.“
»Und unter den 23 war keiner, der dem An-
geklagten ähnlich geweſen wäre ? ö

„Keiner. Ich könnte darauf ſchwören, da ich
ſein Geſicht während der ganzen Zeit ſah.“
„Sie können gehen. — Rufen Sie Leonore
Warrington.“
Das Mädchen in dem Advokatenſtuhle ſtand auf
und trat in den Zeugenſtuhl.
„Ihr Name iſt Leonore Warrington?“
10 — ‚

⁴„Va. ‚
„Was ſind Sie?“
„Lehrerin in der Brooklyn'ſchen höheren Mäd-
chenſchule.“
„Kennen Sie den Angeklagten?“
„Nein.“ ö
„Oder den Verſtorbenen?“
„Nein.“ ö
„Nun, wollen Sie den Geſchwornen vorbringen,

was Sie über dieſe Sache wiſſen.“

„Ich wünſche nur anzugeben, daß bei dem
Zeugniß gegen den Angeklagten es mir ſchien, als
handle es ſich um ſeine Identität, welche dadurch
feſtgeſtellt würde, daß er geſehen worden ſei. Mir
fiel darauf ein, daß es der Mühe werth wäre zu
unterſuchen, ob es möglich geweſen, daß man ihn
ſehen konnte, und ich habe Berechnungen angeſtellt,
von denen der Vertheidiger dem Herrn Richter eine
Abſchrift überreicht hat. Die Tabelle in dem Ge-
betbuche zeigt, daß der Oſtervollmond im Jahre
1854 auf den 12. April fiel. Die Periode von

Vollmond zu Vollmond iſt 29 Tage 12 Stunden

44 Minuten. Wenn alſo der Vollmond auf den
12. April fiel, ſo würde er dann bezüglich auf den
11. Mai, 10. Juni, 9. Juli und 8. Auguſt fal-
len;. und da der Neumond in der Haͤlfte der
Mondperiode von 29½ Tagen eintritt, ſo folgt,
daß 15 Tage nach dem 8. Auguſt, d. i. am 23.
Auguſt, es unmöglich war ihn zu ſehen, wie ſie
es beſchrieben, denn zu der Zeit war kein Mond
ſichtbar. ö ö ö
Todtenſtille herrſchte, während ſie ſprach, und
noch eine Secunde länger; und dann ertönte der
Gerichtsſaal von Freudenrufen; die Leute ſtanden
auf und drückten ſich die Hand; mein Advokat
drängte ſich heran zu mir und gab mir die Hand
und klopfte mich auf die Schulter, und fünf Mi-
nuten lang war es eine vollſtändige babyloniſche
Sprachverwirrung, da Männer und Frauen wein-
ten und jauchzten.
Das Mädchen ſtand ganz ruhig da, und als
 
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