Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1868

DOI Kapitel:
No. 1 - No. 14 (1. Januar - 31. Januar)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43665#0047

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 10.

Mittwoch, den 22. Januar

1868.

Poste restante.

Amerikaniſche Kriminalnovelle.
Von
John Nobody.

— (Fortſetzung.)
Er ſetzte Leonore vor ſich auf einen Stuhl, gab
ihr die Photographie Leeſy's in die Hand und
ſagte freundlich: „Dein Papa wünſcht Dich in den
Schlaf zu verſetzen, mein kleines Mädchen!“ —
Ein Ausdruck von Unwillen flog über Leonorens
Geſicht, wich aber raſch wieder einem hingebenden
Lächeln, womit ſie entgegnete: „Ja, Papa, ich bin
bereit!“ — Der Detektive ſtrich ihr einige Male

mit ſeinen Händen ſanft über Stirn und Schläfe

und ließ ſie einige Minute auf ihr ruhen. Die
Wirkung war überraſchend und in gewiſſem Grade
peinlich anzuſehen: Leonorens ſanftes Geſicht ver-
zog ſich ſchmerzlich, ihre kleinen Hände, ihre Lippen
und Augenlieder erbebten krampfhaft. Ich wendete
mich ab, weil ich nicht die Kraft hatte, dieſen An-—
blick zu ertragen, und als ich wieder hinblickte,
hatte ſich tiefe Ruhe über das kindliche Antlitz ge-
breitet; die Augen waren feſt geſchloſſen, und doch
ſchien es, als ob ſie über das Bild in ihren Hän-
den nachſinne. „Kannſt Du jetzt die Perſon ſehen?“
fragte Burton. — „Ja, Papa.“ — „In einem
kleinen Zimmer mit zwei Fenſtern; es befinden ſich
ein Bett, ein Tiſch und ein paar Stühle darin,
aber kein Teppich am Boden. Das Zimmer iſt
im oberſten Stock eines großen Hauſes von Zie-
gelſteinen, ich kann aber nicht ſehen, wo dieſes ſich
befindet.“ — „Was macht ſie daſelbſt?“ — „Sie
ſitzt am hinteren Fenſter, welches über den Dächern
anderer Häuſer liegt, und hat ein kleines, hübſches
Kind auf dem Schooße.“ — „Es muß in der City
ſein,“ bemerkte Burton halblaut gegen mich; dann
fuhr er, gegen die kleine Somnambüle gewendet,
lauter fort: „Kannſt Du mir den Namen der
Straße nicht nennen?“ — „Nein, ich kann ihn
nicht ſehen. Ich bin nie an dieſer Stelle geweſen.

Vom Fenſter aus kann man Waſſer ſehen und.

viele Schiffe, aber jenſeits des Waſſers iſt grünes
Land mit hellen Häuſern. Es ſieht aus wie der
Hafen.“ — „Alſo in den Umgebungen der Stadt,
oder in Brooklyn!“ flüſterte Burton. „Sind keine

Schilder an den Läden, die Du leſen kannſt?“ —
„Nein.“ — „Nun ſteige die Treppe hinab, gehe
auf die Straße und ſage mir die Nummer des
Hauſes!“ — „Ich kann ſie nicht erkennen, Papa.“
— „Gehe bis an die Ecke und ſage mir die Num-
mer oder den Namen der Straße!“ — „Court-
ſtreet!“ antwortete Leonore raſch. — „Es iſt in
Brooklyn!“ ſagte mir der Detektive triumphirend.
„Nun hindert uns nichts, gerade auf den rechten
Punkt loszuſteuern ... Gehe nun wieder zurück,
Leonore, und ſage mir, wie das Zimmer liegt!“ —
„Im vierten Stock, die erſte Thür links!“ erwie-
derte die Hellſeherin nach einigem Beſinnen.
Das Kind ſah ſehr angegriffen aus, der Schweiß
rann ihr von der Stirn und ſie athmete ſchwer,
als wäre ſie in Wirklichkeit raſch die Treppe hinan-
geſtiegen, über welche ſie im Geiſte hinwegflog.
Mr. Burton wiſchte ihr den Schweiß ab, küßte ihre
Stirn zärtlich und brachte ſie nach einigen Berüh-
rungen wieder in den gewöhnlichen wachen Zuſtand,
aber ſie war außerordentlich blaß und abgeſpannt
und ſank, wie todmüde, an ihres Vaters Bruſt.
Burton trug ſie auf's Sopha, holte aus einem
Schranke eine Flaſche alten Portwein hervor, goß
davon ein kleines Glas voll und flößte dem Kinde
den Wein ein. Dieß belebte Leonorens Nerven-
ſyſtem wieder, ihre Wangen rötheten ſich leicht,
doch blieb ſie nach wie vor ermüdet, und der De-
tektive ſagte mir: „Sie wird nun tagelang in die-
ſem Zuſtande der Ermattung bleiben, als hätte ſie
eiue große, anſtrengende Reiſe zurückgelegt. Es iſt
mir ſchmerzlich, ihr dieſe Qual bereitet zu haben
— ich hoffe, es iſt das letzte Mal geſchehen, we-
nigſtens bevor ſie älter und kräftiger geworden iſt.
Heute Abend will ich den elektriſchen Strom auf
ſie anwenden; inzwiſchen aber wollen wir keine
Zeit verlieren, die erlangten Spuren zu verfolgen,
denn es könnte irgend ein unvorhergeſehener Um-
ſtand das Mädchen wieder zur Flucht veranlaſſen.“
Nachdem der beſorgte Vater ſeine Tochter der
Obhut der Haushälterin übergeden, beſtiegen wir
kurz nach ein Uhr einen Wagen, um nach Fulton
Ferry zu fahren. Fünf Viertelſtunden ſpäter wa-
ren wir an dem von der Hellſeherin beſchriebenen
Hauſe in Courtſtreet, das zu den am Weiteſten ab-
gelegenen gehörte. Wir ſtiegen die Treppe bis zum
vierten Stock empor und fanden die bezeichnete
Thür zur linken Hand. Ich zitterte ein wenig vor
 
Annotationen