Heidelberger Familienblätter.
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
X 69.
Mittwoch, den 10. Juni
1868.
Zu ſpät.
Eine Föhngeſchichte.
CFortſetzung.)
„Sie haben an meinem Sohn einen Bergſteiger
erſter Claſſe, meine Herren“, ſagte der alte Mann
halb wehmüthig, halb ſtolz, während wir in das
Gaſthaus zurückkehrten, um einige für das Unter-
nehmen nothwendige Gegenſtände, Seile, Stangen,
einige mit Branntwein gefüllte Flaſchen und der-
gleichen zu holen. „Mein Gotthelf iſt ein Berg-
ſteiger erſter Claſſe, dem es kein anderer junger
Burſche in dieſem Canton gleichthut. Brachte er
nicht in der Nacht, wo unſer Nachbar Hans in der
Schneewehe umkommen mußte, unſere ſämmtlichen
verlaufenen Schafe mitten durch den Wirbelwind
hindurch von Urſeren zurück? Dazu iſt er auch
einer der beſten Gemſenjäger und nahm einmal die
Eier aus dem Neſte eines großen Lämmergeiers,
der auf einem Felſen niſtete, welcher 700 Fuß hoch
und ſchlüpfrig war wie Glas, als —“
„Still, ſtill, Vater!“ unterbrach der junge
Mann. „Spart lieber Euren Athem zu einem Ge-
det, daß wir mit heiler Haut wiederkommen. Es
iſt nicht das Gold, was mich verlockt, ſondern der
Gedanke an die armen Menſchen da draußen,“
ſagte der Gebirgsſohn, indem er ſich raſch zum
Aufbruch rüſtete. ö
Der Himmel war jetzt ganz finſter, hier und da
zogen weiße Wölkchen raſch daran hin und das
Heulen des Windes ward immer ſtärker; noch im-
mer aber fiel kein Schnee oder Regen.
Die leicht erregbaren Bewohner von Airolo
ſtanden auf den Gaſſen umher, ſprachen leiſe und
ängſtlich mit einander und viele von den Frauen
weinten. ö
Es ſtand jetzt nicht mehr zu bezweifeln, daß
ein in dieſer Zeit der Lawinen doppelt gefährlicher
Sturm dem Ausbruch nahe war, und als die
Thurmglocken zu läuten begannen, ſtieg ein ver-
worrenes Geſchrei, Murmeln und Stöhnen von der
Menge aus. ö
Der Pfarrer des Dorfes erſchien in ſeinem
Prieſtergewand an der Thür der Kirche und rief
mit lauter Stimme: ö
„Betet, Kinder, betet für die Seelen Derer,
welche dem Tode entgegengehen.“ ö
Straße des St. Gotthard hinauf.
Alles ſtürzte ſofort auf die Kniee nieder und
es war unmöglich, das Schluchzen und die ausge-
ſtreckten Hände der ſchlichten, frommen Landleute-
zu ſehen und zu hören, ohne von tiefer Rührung
ergriffen zu werden
„Ich muß fort! Wenn ich noch länger warte,
ſo verliere ich den Verſtand,“ rief Friedrich in wil-
dem Tone.
„Amen!“ ſetzte der junge Führer hinzu.
„Ja wohl, geht, geht!“ ſagte ſein Vater, wel-
cher wahrſcheinlich Das, was die Leute unter ein-
ander ſprachen, beſſer gehört hatte, als ich. „Geh,
Gotthelf, denn wenn Du nur noch fünf Minuten
warteſt, ſo wird man Dich nicht mehr fortlaſſen,
ſondern mit Gewalt zurückhalten. Geh. Ein Mann
von Uri hält ſein Wort, das Geld iſt bezahlt und
das Werk muß verrichtet werden. Aber vergiß nicht
Deine alte Mutter zu Hauſe und laß mich nicht
allein heimkehren.
Eine Minute ſpäter keuchten wir ſchon die ſteile
Es war ein ſchweres Stück Arbeit. Der Boden
war uneben, die Anhöhe ſteil und fortwährend ſtellte
ſich ein Hinderniß in den Weg. ö
Wir drangen jedoch immer weiter vor, durch
Gebüſch hindurch über ſchlüpfrige Steine hinweg
und trotzdem, daß wir oft bis an den Gürtel in
trügeriſche Firne oder Schneebänke verſanken.
„Gotthelf bewährte ſich als trefflicher Führer.
Er war muthig, aber dabei auch klug und um-
ſichtig, und ohne ſeinen ſtarken Arm und ſeine ge-
naue Kenntniß des Weges wären wir liegen ge-
blieben, ehe wir noch die erſte Meile zurückgelegt
gehabt hatten.
So aber mühten wir keuchend, von Schweiß
triefend, während das Dorngeſtrüpp uns die Klei-
der zerriß und das ſcharfe Geröll die Füße ver-
wundete, uns immer weiter.
Immer und immer wieder fragte Friedrich, ob
man hoffen könne, daß die Reiſenden ein Obdach
erreicht hätten, ehe noch die Anzeichen des Sturmes
deutlich ſichtbar geworden ſeien. ö
Gotthelf ſchüttelte den Kopf. Es ſei eine ſchlimme
Geſchichte, meinte er. Jedenfalls hätten die Rei-
ſenden lange zuvor, ehe der Himmel ſich verfinſtert
habe, das Hoſpiz paſſirt, gleichwohl aber noch nicht
Zeit gehabt, das Dorf Hospenthal, geſchweige denn
Andermatt zu erreichen. Die Gefahr ſei ohne
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
X 69.
Mittwoch, den 10. Juni
1868.
Zu ſpät.
Eine Föhngeſchichte.
CFortſetzung.)
„Sie haben an meinem Sohn einen Bergſteiger
erſter Claſſe, meine Herren“, ſagte der alte Mann
halb wehmüthig, halb ſtolz, während wir in das
Gaſthaus zurückkehrten, um einige für das Unter-
nehmen nothwendige Gegenſtände, Seile, Stangen,
einige mit Branntwein gefüllte Flaſchen und der-
gleichen zu holen. „Mein Gotthelf iſt ein Berg-
ſteiger erſter Claſſe, dem es kein anderer junger
Burſche in dieſem Canton gleichthut. Brachte er
nicht in der Nacht, wo unſer Nachbar Hans in der
Schneewehe umkommen mußte, unſere ſämmtlichen
verlaufenen Schafe mitten durch den Wirbelwind
hindurch von Urſeren zurück? Dazu iſt er auch
einer der beſten Gemſenjäger und nahm einmal die
Eier aus dem Neſte eines großen Lämmergeiers,
der auf einem Felſen niſtete, welcher 700 Fuß hoch
und ſchlüpfrig war wie Glas, als —“
„Still, ſtill, Vater!“ unterbrach der junge
Mann. „Spart lieber Euren Athem zu einem Ge-
det, daß wir mit heiler Haut wiederkommen. Es
iſt nicht das Gold, was mich verlockt, ſondern der
Gedanke an die armen Menſchen da draußen,“
ſagte der Gebirgsſohn, indem er ſich raſch zum
Aufbruch rüſtete. ö
Der Himmel war jetzt ganz finſter, hier und da
zogen weiße Wölkchen raſch daran hin und das
Heulen des Windes ward immer ſtärker; noch im-
mer aber fiel kein Schnee oder Regen.
Die leicht erregbaren Bewohner von Airolo
ſtanden auf den Gaſſen umher, ſprachen leiſe und
ängſtlich mit einander und viele von den Frauen
weinten. ö
Es ſtand jetzt nicht mehr zu bezweifeln, daß
ein in dieſer Zeit der Lawinen doppelt gefährlicher
Sturm dem Ausbruch nahe war, und als die
Thurmglocken zu läuten begannen, ſtieg ein ver-
worrenes Geſchrei, Murmeln und Stöhnen von der
Menge aus. ö
Der Pfarrer des Dorfes erſchien in ſeinem
Prieſtergewand an der Thür der Kirche und rief
mit lauter Stimme: ö
„Betet, Kinder, betet für die Seelen Derer,
welche dem Tode entgegengehen.“ ö
Straße des St. Gotthard hinauf.
Alles ſtürzte ſofort auf die Kniee nieder und
es war unmöglich, das Schluchzen und die ausge-
ſtreckten Hände der ſchlichten, frommen Landleute-
zu ſehen und zu hören, ohne von tiefer Rührung
ergriffen zu werden
„Ich muß fort! Wenn ich noch länger warte,
ſo verliere ich den Verſtand,“ rief Friedrich in wil-
dem Tone.
„Amen!“ ſetzte der junge Führer hinzu.
„Ja wohl, geht, geht!“ ſagte ſein Vater, wel-
cher wahrſcheinlich Das, was die Leute unter ein-
ander ſprachen, beſſer gehört hatte, als ich. „Geh,
Gotthelf, denn wenn Du nur noch fünf Minuten
warteſt, ſo wird man Dich nicht mehr fortlaſſen,
ſondern mit Gewalt zurückhalten. Geh. Ein Mann
von Uri hält ſein Wort, das Geld iſt bezahlt und
das Werk muß verrichtet werden. Aber vergiß nicht
Deine alte Mutter zu Hauſe und laß mich nicht
allein heimkehren.
Eine Minute ſpäter keuchten wir ſchon die ſteile
Es war ein ſchweres Stück Arbeit. Der Boden
war uneben, die Anhöhe ſteil und fortwährend ſtellte
ſich ein Hinderniß in den Weg. ö
Wir drangen jedoch immer weiter vor, durch
Gebüſch hindurch über ſchlüpfrige Steine hinweg
und trotzdem, daß wir oft bis an den Gürtel in
trügeriſche Firne oder Schneebänke verſanken.
„Gotthelf bewährte ſich als trefflicher Führer.
Er war muthig, aber dabei auch klug und um-
ſichtig, und ohne ſeinen ſtarken Arm und ſeine ge-
naue Kenntniß des Weges wären wir liegen ge-
blieben, ehe wir noch die erſte Meile zurückgelegt
gehabt hatten.
So aber mühten wir keuchend, von Schweiß
triefend, während das Dorngeſtrüpp uns die Klei-
der zerriß und das ſcharfe Geröll die Füße ver-
wundete, uns immer weiter.
Immer und immer wieder fragte Friedrich, ob
man hoffen könne, daß die Reiſenden ein Obdach
erreicht hätten, ehe noch die Anzeichen des Sturmes
deutlich ſichtbar geworden ſeien. ö
Gotthelf ſchüttelte den Kopf. Es ſei eine ſchlimme
Geſchichte, meinte er. Jedenfalls hätten die Rei-
ſenden lange zuvor, ehe der Himmel ſich verfinſtert
habe, das Hoſpiz paſſirt, gleichwohl aber noch nicht
Zeit gehabt, das Dorf Hospenthal, geſchweige denn
Andermatt zu erreichen. Die Gefahr ſei ohne