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Heidelberger Familienblätter — 1868

DOI Kapitel:
No. 144 - No. 155 (2. December - 30. December)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43665#0584

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wenn ich Ihnen ſage, daß mein junges Gemüth
von dem heißeſten, tief in meiner Phantaſie wur-
zelnden Wunſch ergriffen wurde, mein eigenes Loos
an dieſen, von der Menſchheit aufgegebenen Mann
zu feſſeln, mich für ihn aufzuopfern, ja gleich un-
glücklich zu ſein, wie er, wenn er nicht gleich glück-
lich ſein konnte wie ich.“
Dieſe letzten Worte machten tiefen Eindruck auf
mich, und ich empfand eine lebhafte Sympathie mit
der Erzählenden.
(Fortſetzung folgt.)

Die Giftmiſcherin Marie Jeanneret von
Locle vor dem Genfer Schwurgericht.

Genf, 23. November.
Bevor wir zu den heute begonnenen Gerichts-
verhandlungen übergehen, welche mehrere Tage
dauern und am Schluſſe conſtatiren werden, ob
Marie Jeanneret zum Auswurfe der Menſchheit
gehöre und mit Vorbedacht und teufliſcher Raffi-
nirtheit gemordet habe oder als eine Geiſteskranke
zu betrachten und darnach zu behandeln ſei, iſt es
nothwendig, aus den Anklageacten des Staatspro-
kurators zur Vervollſtändigung der früheren Mit-
theilungen noch einige Facta zu entnehmen. Den
13. Januar 1836 zu Locle geboren, verlor Marie
Jeanneret ſchon als Kind ihre Eltern, welche ein
zum ſpätern Uuterhalte hinreichendes Vermögen hin-
terlaſſen hatten. Sie wurde von einem ihrer
Oheime aufgenommen und mit väterlicher Sorgfalt
behandelt und erzogen. ö ö
Schon in früher Jugend durch zeitweiſe Ner-
venleiden in ihrer Entwickelung gehindert, bekundete
ſie ſpäter einen intriguanten Charakter, war eigen-
ſinnig, ſehr zur Lüge geneigt und beſtand darauf,
eingebildete oder wirkliche Krankheiten, beſonders
Augenleiden, zu haben, ein Umſtand, der ſie oft
in Verkehr mit Aerzten brachte und ihr zu gewiſ-
ſen mediciniſchen Kenntniſſen verhalf, ſo daß ſie
ſich zuletzt einbildete, ſelbſt kuriren zu können und
darauf beſtand, Krankenwärterin zu werden.

Im Jahre 1865 wurde ſie wegen der vorgeb-

lichen Augenkrankheit von einem ihrer Verwandten
zu Dr. lehn nach Vevey begleitet, ſuchte hier ſchon
ein Fräulein Berthet von Nyon, mit der ſie zu-
fällig in der Penſion der Frau Béroud bekannt
geworden, zu vergiften, und trat im October 1866
als Schülerin in die Lauſanner Krankenwärterſchule
des Herrn Reymond, der gleich ein eigenthümliches
Benehmen bei ihr bemerkte und ſie wegen ihrer
Schwatzhaftigkeit als Krankenwärterin nicht ſehr
geeignet fand. Während des nur zweimonatlichen
Aufenthalts bei Herrn Reymond machte ſie, als
Krankenwärterin ausgeſandt, an einer Frau Cha-
bloz in Lauſanne Vergiftungsverſuche.

57²

Von Lauſanne nach Loele zurückgekehrt, wurde
ſie durch Vermittlung des Fräulein Farſat, welche
ſich in Lauſanne bei Herrn Reymond mit Madame
Vaucher als Krankenwärterin der neu zu errichten-
den Krankenpenſion der Madame Javet in Genf
ausbildete und bei dieſer Gelegenheit die Jeanneret

kennen lernte, nach Genf berufen und von Madame

Javet angeſtellt. Kaum bei Madame Javet ein-
getreten, wußte ſie durch außergewöhnliche Schmei-
chelei das ganze Vertrauen ihrer Herrin für ſich zu
gewinnen und Letztere mit den Freundinnen Ma-
dame Vaucher und Fräulein Farſat zu entzweien.
Von da beginnen nun, wie ſchon berührt, ſo
zu ſagen im großen Styl ihre Mordthaten. Von
9 in Genf durch ſie Vergifteten ſind 6, nämlich
Fräulein Gay, Fräulein Junod, Madame Javet,
Fräulein Javet, Herr Gros und Madame Bouvier,
geſtorben und 3, Madame Bourcart, Madame Le-
geret und Fräulein Fritzgés, gerettet worden.
Die Art der Entdeckung der Verbrecherin, na-
mentlich das Verdienſt, welches ſich dabei der Maler
Bourcart erwarb, wurden ſchon mitgetheilt und es
ſtimmen mit jenem Berichte die Angaben des Staats-
anwalts überein. Aus dem Berichte des Letzteren
geht als charakteriſtiſch noch weiter hervor, daß die
Jeanneret in wirklicher Verſtellung hauptſächlich
nur gegen die Aerzte und Perſonen, von welchen

ſie ein Intereſſe hatte, angeſtellt zu ſein, äͤußerſt

aufmerkſam, beſcheiden und zuvorkommend war, daß
ſie dagegen die Kranken in unbewachten-Augen-
blicken roh und gemein behandelte und bei der Die-
nerſchaft in unziemlichen Ausdrücken über die Kran-
ken und Aerzte ſich erging. Nur in einem Falle
iſt conſtatirt, daß ſie ſich unerlaubter, heimlicher
Weiſe einen Werthgegenſtand, und zwar den Ring
von einer Gemordeten, aneignete.
Im Ganzen genommen iſt der Anklageact ſehr
ſchonend und laͤßt keine abſolute Ueberzeugung von
der Schuld durchblicken. Zum Schluſſe läßt der
Staatsanwalt den chemiſchen Experten, den Apo-
thekern Süskind und Brun, für die bei der großen
Hitze des verfloſſenen Sommers vorgenommene Un-
terſuchung der ausgegrabenen, verweſten Leichname
die hoͤchſte Anerkennung zu Theil werden und kon-
ſtatirt, daß außer Atropin auch Morphium, Anti-
monium und Kupfer gefunden worden ſind. (Bund.)

Ein merkwürdiger Künſtler.
Wenn ich heute von einem in der ganzen mu-
ſikaliſchen Welt hinreichend anerkannten Künſtler
ſpreche, ſo geſchieht dies nicht ſowohl, um über die-
ſes Meiſters Kunſt ſelbſt zu berichten, ſondern viel-
mehr um den merkwürdigen Lebenslauf eines Man-
nes zu ſchildern, an dem wir den Satz vollgültig
bewahrheitet finden: „das Talent wird geboren.“
 
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