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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Mann, Heinrich: Irrthum: Novelette
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0200

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MODERNE KUNST.

107

J ederTag, um den sich die gegebene Frist
Verminderte, vermehrte meine Herzensangst.

Der Heilige Abend war gekommen, viel-
leicht noch in der Nacht sollte Ihr Gatte
^ürückkehren.

Ich sehe es, wir standen am weihnacht-
liehen Tische, den Sie ordneten. Tags über
hatte ich Ihnen beim Auf'putz des Baumes
Seholfen und das fortwährende Aneinander-
streifen unserer Kleider, die Berührung
ihrer Ilände hatte mich zugleich toll ge-
^acht und entnervt. Schwach und fiebernd
hielt ich mich kaum auf den Beinen, allein
v°n meinem namenlosen Verlangen mich
2ü erklären, unterstützt. Und die Zeit ver-
rann. Jede Minute bohrte sich mir jetzt
^ht einem Dolchstich in die Seele, ich
Wsste — musste sprechen, ich öffnete ge-
"'nltsam meine trocknen heisscn Lippen —-
Und schwieg.

Da traf rnich Ihr prüfender Blick und
°hne einen Gedanken faltete ich die Hände
und so, mit gerungenen Händen vor Ihnen
stehend, fühlte ich Thränen, wie heisse
h’adeln, in meine Augen schiessen. Als ich
hurch den Schleier hindurch wieder sah,
r>ahm ich auch Ihre schönen Augen ver-
Schleiert wahr. Sie hatten Ihr Gesicht dem
^einen genähert. „Armer, guter Junge!“
sPrachen Sie langsam.

Mit dcn Thränen war mir auch die
Zunge gelöst.

„Warum hast Du mich so lange unglück-
1 ich gelassen?“ stiess ich hervor.
nNicht unvernünftig sein!“ baten Sie, und
als Sie mich aufbegehren sahen: „Kind! Kind!“
Urohten Sie.

„Unvernünftig! Kind!“ rief ich voll Verzweiflung
aUs. „So liebst Du mich also nicht?!“ Und kindisch
"’eiter, besinnungslos: „Aber warum, warum denn
nicht!“

„Weil ich meinen Mann liebe.“

Elisabeth, gestatten Sie das Bekenntniss, das der
Jüngling auch noch in der höchsten, verzweifelten
^’uth, die dieses Ihr Wort in ihm entfesselte, ver-
Schlossen hielt, dem Greise: das Bekenntniss des
^Weifels, den ich nur durch dies Bekenntniss büssen
ltann. Denn es ist wahr, dass ich in jener Stunde an
lirrer Wahrheit gezweifelt habe, dass ich Ihre Güte
und Ihr Mitleid, Alles für ein Spiel gehalten habe,
eines dieser alltäglichen Spiele, darin eine Frau den
^rieden und das Lebensglück eines Mannes als Ein-
stttze benutzt.

Dennoch meine ich Sie weder wegen dieses
y

Mreifels noch wegen des Auftritts der nun folgte, um

^ urzeihuns: bitten zu sollen: weiss ich doch, dass Sie
1- 0

angst vergeben, vielleicht gar vergessen haben mit
'ier Vergesslichkeit des Glücklichen. Ich sehe Sie,
'“ ie Sie sich erstaunt fragen, ob es möglich, dass
e'nem Andern in mancher Stunde und bis an die
ScWelle des Grabes, vor der Seele gestanden sein
s°Ute, was Ihnen selbst nach einer kurzen Krise vor-
^bergegangen. Ich sehe auch Ihre Herzensheiterkeit
Uui der Lectüre dieser Erinnerungen wieder von diesem
Scuönen Mitleid verklärt, das Sie sogar bis in jenen
^Vtritt hineinbrachten, den ich nun schildern muss,
Sei cs nur um meine Busse zu vollenden.

Vier gegen Einen.
 
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