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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 40 - No. 52 (1. April - 29. April)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43665#0209

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— 199 —

auch einen Choral und der Amtmann geſtand ſich
heimlich, daß ihm dann frömmer zu Muthe ſei,
als in der Kirche ſelber. ö
(Fortſetzung folgt.)

Hirt und Näuber.
(Ein ungariſches Steppenbild.)
So traurig es einerſeits, ſo wahr iſt es ander-
ſeits, daß die freie Natur, die den Leib ſtärkt, das

Gemüth verwildert, und auf öder Steppe gedeiht

der Räuber, der, ſo eigenthümlich dies auch für den
erſten Augenblick klingt, im ungariſchen Tieflande
das Produkt der dortigen Agrikulturzuſtände iſt.
Daß ein Areale von vielen hunderten und tau-
ſenden von Jochen vorzüglich in einem Lande, deſſen
Bevöͤlkerung nur in ſeiner verſchwindend kleinſten
Fraction die Bedeutung der Stallfütterung erkannt
hat, nur als Weide Verwerthung finden kann, liegt
auf der Hand; der Weidengang wirkt aber demo-
raliſirend auf den Hirten, und mit dem Gänſe-
hüten, mit dem der Junge oft ſeine Carriere be-
ginnt, wird ſchon der Müßiggang, der bekanntlich
aller Laſter Anfang iſt, ſyſtematiſch gefördert, die
Luſt am Nichtsthun genährt, und werden dort, wo
Knaben mit Mädchen in Gemeinſchaft hüten, ge-
ſchlechtliche Beziehungen angebahnt, welche den Keim
zu vielen phyſiſchen und moraliſchen Uebeln legen.
Wir wollen hier nur vom Hirten der Quadru-
peden ſprechen, der, je nachdem er Rinder, Schafe,
Pferde oder Schweine hütet, Gulyas, Juhasz, Eſi-
kos oder Kanasz heißt. ö
Da die Vegetation meiſt die Gattung der Vieh-
zucht beſtimmt, ſo wird es begreiflich, daß der
Schweinehirt vorzüglich in Eichwaldungen hauſet,
wo er für ſeine Pflegebefohlenen reichliche Maſtung
findet, während die übrigen Kategorien der Vieh-
hüter ihre Heerden mit Vorliebe auf den mehr oder
weniger abſehbaren Heiden des Flachlandes zur
Weide führen.
Mit Frühlingsanfang austreibend, neben ſich
den mit Brod, Speck, Paprika (ſpaniſchem Pfeffer),
dem Schafpelz (Bunda), Keſſel und Spaten bela-
denen Eſel, am Leibe außer den leinenen weißen
Hoſen das zur Abwehr des Ungeziefers mit Schweine-
ſchmalz eingefettete Hemd, auf dem Kopfe den rings
hoch aufgekrempten, fettglänzenden Filzhut, in der

Taſche die nie fehlende Pfeife mit Zugehör und das

Einſchlagmeſſer, zieht er hinaus, in der Hand den
eiſenbeſchlagenen Stock, gefolgt von einigen mäch-
tigen Schafhunden, die dem Wolfe ähnlich es nicht
ſelten auch ſiegreich mit dieſem pußtenbewohnenden
Raubthiere aufnehmen. ö
Die Bunda, die bei trockenem rauhen Wetter
mit der Wolle, bei Regen aber mit der Lederſeite
nach innen getragen wird, iſt ihm Sommer und
Winter Haus, Kleid, Bett und Decke. So betritt

er die Heide, begleitet von ſeinem ähnlich ausge-
ſtatteten Geſellen (Bujtar), aber auf ihm allein
laſtet die Haftung für das von einem oder mehreren
Eigenthümern zur Hütung übernommene Vieh.
Auf der Pußta vertheilen ſich nun die Hirten,
und jeder ſchlägt ſein flüchtiges Lager dort auf, wo.
er Weide und Waſſer, wo er Holz oder Röhricht
zur Feuerung findet. In den Niederungen, wo es
oft nur eines Spatenſtiches bedarf, um Waſſer zu
Tage zu fördern, wird überall, wo dieſer Nomade
lagert, vorerſt ein Brunnen gegraben, wo das Waſſer
aber tiefer liegt, treibt er ſein Vieh oft Stunden
weit zu einem jener Heidebrunnen, die wie rieſige
Störche dem durſtigen Wanderer auf heißer Steppe
winken und deren Schwengel nicht ſelten als opti-
ſcher Telegraph dem herumlungernden Räuber Kunde
gibt von naher Gefahr. Ueber ſich den blauen
Himmel, unter ſich die grüne Erde, um ſich die
unabſehbare, meiſt nur von niedrigem Geſtrüppe
bewachſene Heide, ſteht oder liegt der Hirte nun
halbe oder ganze Tage, umkreiſet von den treuen-
Hunden, mit trägem Auge ſeine Heerde bewachend.
Und ſo verrinnt Stunde um Stunde, und ſo
vergeht Tag um Tag, und Woche um Woche, und
nichts unterbricht die Stille, als bisweilen in nächt-
licher Zeit das Geheul eines Raubthieres, nichts
ſtört dieſen Frieden, als von Zeit zu Zeit der Kampf
zweier ſtärkerer Thiere der Heerde um die Herrſchaft
oder die Mißhandlung eines Parias aus der Thier-
genoſſenſchaft, wie ſich ein ſolcher in jeder größeren
Heerde findet. ö
Dieſe Bilder, welche an dem leiblichen Auge des
Mannes vorüberziehen, ſprechen ihm nur von wil-
den ungezähmten Trieben, vom Recht des Stärkeren,
und in der Gleichmäßigkeit und Geſetzlichkeit ge-
wiſſer. Naturerſcheinungen erkennt er in ſeiner von
der Türken⸗Herrſchaft überkommenen fataliſtiſchen
Weltanſchauung nichts als das Walten blinder Noth-
wendigkeiten. Von Zeit zu Zeit beſucht ihn das
Weib und bringt ihm Brod und jene unumgänglich
nöthigen Nahrungsmittel, welche die Heerde nicht
bietet. Letztere aber liefert ihrem Hüter als unfrei-

willigen Tribut das Fleiſch ihrer fetteſten Rinder

und wenn der Räuber in ſtiller Nacht auf flüch-
tigem Roſſe an's Hirtenfeuer kommt, wird ein feiſtes
Stück erſchlagen und den Keſſel füllt bald die
durch Paprika rothgefärbte dampfende Brühe, in
der Theile eines Schafes ſchwimmen, welches dem
Eigenthümer als vom Wolfe zerriſſen oder als plötz-
lich gefallen oder als auf ähnliche Art verunglückt
verrechnet wird. Der Räuber aber iſt dankbar für
ſolche Gaſtfreundſchaft und ſie ſichert die Heerde,
daß ſie nicht davongetrieben werde in finſterer
Nacht durch Treiber, die in raſendem Galopp an-
ſprengend die erſchreckten Thiere Meilen weit in
Verſtecke jagen, von wo ſelbe nur höchſt ſelten wie-
der zum Vorſchein kommen. (Schluß folgt.)
 
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