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Heidelberger Zeitung — 1899 (Januar bis Juni)

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https://doi.org/10.11588/diglit.39312#0343

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sonntags ausgenommen.
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mit Familienblättern
monatlich 50 Pf.
frei in's Haus gebracht.
Durch die Post bezogen
Vierteljahr!. 1.25
»usschließlich Zustellgebühr.


Fernsprech-Anschluß Nr. 82.


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Für hiesige Geschäfts- und
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ermäßigt.

Fernsprech-Anschluß Nr. 82.

Xr. 77. Wes Mt. Samstag, den 1. Ml

1898.

Des Osterfestes wegen erscheint die nächste
Nummer am Dienstag.
Bestellungen
auf die Heidelberger Zeitung für das II. Quartal 1899
werden bei allen Postanstalten, den Briefträgern, den
Agenten, bei den Trägern in der Stadt, sowie in der
Expedition, Untere Neckarstr. 21, fortwährend angenommen.
Bezugspreis: monatlich nur 50 Pfg., frei in's Haus
gebracht; durch die Post bezogen Mk. 1.25 vierteljährlich,
wit Zustellgebühr Mk. 1.65.
Neue Wirren in Samoa.
Während Deutschland, England und die Vereinigten
Staaten von Nordamerika über die Regelung der samoani-
fchen Verhältnisse verhandeln und von London aus ver-
sichert wird, daß speziell England und Deutschland dabei
guter Harmonie sind, kommen von den Samoainselu
ganz überraschende Nachrichten von neuen kriegerischen
Wirren, wobei Engländer und Amerikaner mit
Militärischer Gewalt eingegriffen haben.
Wie das Bureau Reuter aus Apia vom 23. März
weidet, hielt der englische Admiral Kautz eine Zusammen-
kunft der Konsuln und der ältesten Flottenoffiziere an
Bord der „Philadelphia" ab, da Mataafa und die zu ihm
haltenden Häuptlinge fortführen, im Widerspruch mit dem
Berliner Vertrag zu handeln. Die Versammlung beschloß,
die provisorische Regierung zu desavouiren.(I)
Infolgedessen erließ Admiral Kautz eine Bekanntmachung,
M der Mataafa und seine Häuptlinge aufgefordert wurden,
bach ihren Wohnplätzen zurückzukehren. Mataafa verließ
darauf Mulinu und ging ins Innere. Der deutsche Konsul
^ließ seinerseits eine Gegenbekanntmachung. Die Mataafa-
leute versammelten sich kriegsmäßig und umzingelten die
Stadt. Der britische Kreuzer „Royalist" brachte die gefangen
gehaltenen Anhänger der Malietoapartei von den anderen
Inseln herüber. Die Amerikaner befestigen Mulinu, wohin
sich 2000 Eingeborene der Malietoapartei flüchteten. Die
Wataafaleute verbarrikadirten die Straßen innerhalb der
Grenzen der Municipalität und besetzten britische Häuser.
Darauf wurde ein Ultimatum an die Mataafaleute gesandt,
w welchem sie aufgefordert werden, das Gebiet der Munici-
balität zu räumen, sonst werde am 15. März um 1 Uhr
die Beschießung beginnen. Die Mataafaleute kümmerten
sich nicht um das Ultimatum und begannen, die Stadt
twzugreifen. Auf Anweisung des amerikanischen und britischen
Eonsnls eröffneten nunmehr die Kriegsschiffe „Philadelphia"
Und „Royalist" das Feuer auf die abgelegenen Dörfer eine
halbe Stunde vor dem festgesetzten Beginn der Beschießung.
Bei der dichten Bewaldung des Geländes erwies es sich
whr schwierig, den Standort der feindlichen Partei festzu-
uellen. Einige Dörfer am Ufer standen bald in Flammen.
Ein fehlerhaftes Geschoß der Philadelphia platzte bei dem
^Mexikanischen Konsulat; von den davorstehenden Marine-
foldaten wurde einem ein Bein zerschmettert, das amputirt
werden mußte. Ein Sprengstück von eben diesem Geschoß schlug
durch daß deutsche Consulat und zertrümmerte das Küchen-
gftchirr. Die Deutschen begaben sich darauf an Bord des
Falke. In der Nacht machten die Anhänger Mataafas
Einen scharfen Angriff auf die Stadt und tödteten drei
dritische Matrosen. Ein britischer Marinesoldat wurde von
E'Ner britischen Schildwache versehentlich in die Beine, ein
nutzerer in die Füße geschossen. Ein amerikanischer Wacht-
posten wurde an seinem Platze getödtct. Die Beschießung
dauerte acht Tage mit längeren Pausen. Die Bewohner
der Stadt flüchteten an Bord des Royalist, der gedrängt
Uvll Menschen war. Viele verließen Samoa, denn der

Kapitän ersuchte sie dringend darum, damit sie die mili-
tärischen Operationen nicht behinderten. Wie viel Einge-
borene getödtet wurden, ist noch nicht anzugeben. Das
britische Kriegsschiff Porpoise nahm ebenfalls an der Be-
schießung theil. Es beschoß die Dörfer östlich und west-
lich von Apia und nahm viele Boote weg. Die Englän-
der und Amerikaner kämpften zusammen. Die Stimmung
gegen die Deutschen ist sehr erbittert. Ein Engländer und
ein Deutscher wurden als Spione verhaftet. Das eng-
lische Kriegsschiff Tauranga, das auf dem Wege nach
Tonga dem Vernehmen nach begriffen war, wurde bei den
Fidschi-Inseln auf seinem Wege angchalten.
So der Bericht des Reuter'schen Bureaus, von dem
man annehmen darf, daß er möglichst günstig für England
gehalten ist. Da erhebt sich nun zunächst die Frage, die
auch ein Londoner Blatt schon aufgeworfen hat: wie
kommt der englische Admiral dazu, die Regierung von
Samoa, die gar keine provisorische, sondern dem Häupt-
ling Mataafa durch seine rechtmäßige Wahl zum „König"
definitiv übertragen worden ist, abzusetzen? Selbstverständ-
lich erhob der deusche Konsul dagegen Einspruch. Eine
aktive Einmischung der deutschen Marine zu Gunsten Ma-
taafas hat nicht stattgefundeu. Die englische und die
amerikanische Presse sind geneigt, die Schuld an den Vor-
kommnissen dem deutschen Konsul zuzuschreibcn; mit der-
gleichen sind sie immer sehr schnell bei der Hand, was in-
sofern begreiflich ist, als die englischen und amerikanischen
Zeitungsartikel sicherlich aus unmittelbarer Nähe des eng-
lischen und des amerikanischen Konsuls stammen. Auch
diesmal ist jedoch an seinem gesetz- und rechtmäßigen Vorgehen
nicht zu zweifeln. Die Art und Weise, wie der englische
und der amerikanische Vertreter in Samoa Deutschland, das
dort die weitaus überwiegenden Interessen hat, Chikanen
zu bereiten suchten, ist nicht schön und nicht geeignet Deutsch-
land freundlich zu stimmen. Man hofft indessen, daß die
Verhandlungen der Regierungen ruhig und freundlich ver-
laufen und die Angelegenheit wieder auf ihr richtiges Maß
zurückführen werden. Die Londoner Daily Mail schreibt:
Wir sind der Meinung, daß bei einer endgiltigen Aus-
einandersetzung, welche nun wegen Samoa erfolgen muß,
die Wünsche Deutschlands gebührend zu beachten sind. Das-
selbe hat England kürzlich einen Beweis freundschaftlicher
Gesinnung gegeben, und England sollte sich daher eine
ehrliche und ehrenvolle Erwiderllng derselben angelegen
sein lassen. Die Freundschaft Deutschlands ist der Stütz-
punkt unserer äußeren Politik.

Deutsches Reich.
— Der Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohen-
lohe-Schillingsfürst beging gestern, am 31. März,
seinen 80. Geburtstag in Baden-Baden, fern vom Geräusch
des Tages im Kreise der Seinen. Es kann sich nicht da-
rum handeln, bei dieser Gelegenheit das politische Facit
dieses an Arbeit und Erfolgen so reichen Lebens zu schil-
dern, wo die Hauptaufgabe, die ihm die Vorsehung stellte,
der Gegenwart und Zukunft angehört, und so sein Wirken
die volle Würdigung erst finden kann, wenn später die
Archive sich öffnen und die Geschichte auch das aussprechen
darf, was jetzt unter dem Siegel der Vertraulichkeit ver-
schlossen bleiben muß. Es sei hier nur kurz darauf hin-
gewiesen, daß Fürst Hohenlohe von 1866 bis 1870 als
bayerischer Ministerpräsident, von 1874 bis 1885 als deut-
scher Botschafter in Paris, von da ab bis 1894 als Statt-
halter von Elsaß-Lothringen verdienstlich gewirkt hat und
daß er nun im vierten Jahre als Reichskanzler den schwie-
rigen und sehr verantwortungsvollen ersten Beamtenposten

im Reiche versieht. Er ist ein feiner Kopf, besitzt Geduld
und Zähigkeit und hat mit diesen Eigenschaften ansehnliche
Erfolge nicht nur nach unten, sonder» auch nach oben zu
errungen. Mit dem Kaiser und den Bundes fürsten gedenken
dankbaren Herzens alle nationalgesinnten Deutschen dessen,
was Fürst Hohenlohe bisher für die Einheit und die
Wohlfahrt des deutschen Volkes als Mitarbeiter der großen
Begründer des Reiches gethan, und wünschen ihm für den
Abend seines Lebens, daß ihm von Allen, die zur Leitung
des deutschen Volkes berufen sind, freudige und vertrauens-
volle Mitwirkung zu Theil werde, bis er sein Werk als
abgeschlossen betrachtend das ihm anvertraute Amt wieder
in die Hände des Kaisers zurücklegt. — Ueber die Feier
des Geburtstages wird uns aus Baden-Baden berichtet:
ö. Baden-Baden, 31. März. Die Feier des 80. Ge-
burtsfestes des Reichskanzlers Fürsten Hohenlohe-Schillingsfürst
wurde heute im engsten Familienkreise im russischen Hofe, dem
Absteigequartier, begangen- Um den greisen Fürsten schaaren sich
seine Kinder, Enkel und Enkelinnen. Es sind hier anwesend:
seine älteste Tochter, die Prinzessin Elisabeth, sein ältester Sohn,
Erbprinz Philipp und dessen Gemahlin, ferner der Prinz und
die Prinzessin Alexander mit den beiden Kindern, Prinz Moritz,
Graf Schönbronn mit den beiden Komtessen und der Prinz
Ratibor. Zahllose Telegramme und Briefe sind bei dem Reichs-
kanzler eingelanfen. Der Wirkt. Geh. Obcrregiernngsrath Frhr.
von Wilmowski hat die Glückwünsche der Beamten der Reichs-
kanzlei persönlich überbracht. Geh. Regierungsrath Haape hat im
Namen der bad. Regierung und eine städtische Deputation, be-
stehend aus Oberbürgermeister Gönner, Stadtrath Otto Kah und
Stadtverordnetenvorstand - Stellvertreter Ernst Beuttenmüller, hat
im Namen der Stadtgemeinbe unter Ueberreichung eines Lorbeer-
kranzes die Glückwünsche ausgesprochen.
— Am 1. April wird die Nationalliberale Partei in
der Kapelle zu Friedrichsruh am Grabe des Fürsten
Bismarck einen Kranz niederlegen lassen, auf der
Schleife die Aufschrift: Dem großen Kanzler in Treue und
Dankbarkeit — die Nationalliberale Partei
Deutschlands.
— Der Reichsanzeiger veröffentlicht eine Allerhöchste
Verordnung betreffs U ebernahme der Landeshoheit
über das Schutzgebiet von Neu-Guinea durch das
Reich. Die Verordnung tritt mit dem 1. April 1899 in
Kraft. — Die Nordd. Allgem. Ztg. meldet: Zum Gou-
verneur von Deutsch-Neu-Guinea wurde der ehemalige
Finanzdirektor von Deutsch-Ostafrika, von Bennigsen,
mit dem Rang eines Generalkonsuls ernannt. (Der
neue Gouverneur ist ein Sohn des berühmten Parlamen-
tariers, Oberpräsidenten a. D. Dr. Rudolf v. Bennigsen.)
— Die Zwangs in nun gen machen ihren Freunden
wenig Freude. Eine offiziöse Zeitung schreibt nun: „Es
ist jetzt als sicher anzusehen, daß die Verwaltungen einiger
auf Grund des Handwerkerorgauisationsgesetzes gebildeten
Zwangsinnungen in sozialdemokratische Hände ge-
laugt sind. Wir führen als Beispiel nur die Schuh-
macherzwangsinuungen in Köln und Lübeck an. Zwar ist
die Zahl solcher Innungen nicht groß, auch sind nur ge-
wisse Berufszweige von einem solchen Mißgeschicke be-
troffen, da glücklicherweise der weitaus größte Theil der
deutschen Handwerker auf dem Boden der heutigen Staats-
und Gesellschaftsordnung steht." Zu denken gibt die That-
sache immerhin. Die Sozialvemokratie nutzt alle sich ihr
darbietenden Gelegenheiten zur Propaganda und damit zur
Erreichung ihrer Ziele aus.
Baden. Der Tabak des Bad. Be ob. wird sogar
seinem Gesinnungsgenossen, dem Pfälzer Boten, der
doch gewiß etwas vertragen kann, zu stark. Wir lesen in
letztgenanntem Blatt:
Der Bad. Beobachter hat neulich, wie wir gestehen müssen,
bedauerlicherweise den Ausdruck „protestantische Stink-
thiere" gebraucht. Es sollte damit nicht etwa den Prote-
stanten ein Schimpf angethan werden, sondern der Beobachter

. * Das Romanfeuilleton mußte heute Raummangels wegen
«Egbletben.

Bachs Johannes-Passion.
L*L Heidelberg, 1. April.
^ Eine edle Sitte ist es, den Charfreitag durch Bach und Bach am
U.arfreitag zu feiern. Es ist freudig zu begrüßen, daß diese
schone Sitte sich auch hier, dank dem Bachverein, eingebürgert
Von dem religiösen Moment ganz abgesehen, bedeutet es
jfEts Läuterung und Erhebung, wenigstens einmal im Jahr bei
IN Größten in der Musik Einkehr und Andacht halten zu können.
A°N einem der Bach'schen Meisterwerke kehrt man wie neu ge-
"Üet in's Leben zurück.
i- Ein anderer Referent hat s. Zt. die Johannes-Passion bei
oreu, ersten Erscheinen hier eingehend behandelt. Meine Auf-
kann sich daher darauf beschränken, die gestrige Wirkung zu
Jachten, den individuellen Eindruck der gestrigen Aufführung
'°'°berzugeben.
ea so Vieles musik-literarisch angeblich feststeht, entspricht
« der Gepflogenheit, die Johannes-Passion der Matthäus-Passion
ZflEszuordnen. Sicherlich liegt hierzu Grund vor, denn diese ge-
n7s"ge Composition überragt in ihrer Gesammtheit ihre ganze
mgebung, alles Aehnliche. Es wäre aber falsch, darum anzu-
^Mien, daß die Johannes-Passion nicht eigenartige Größe und
chouheit aufweise, wie man sie in der bekannteren Composition
'Eberum vergeblich suchen würde.
iß >sch wüßte z. B. keinen Chor in der Matthäus-Passion, den
Uber den Schlußchor in 6-rnoll, diesen grandios-feierlichen
b'wg „Ruht wohl", stellen möchte.
verschiedene Textwort hat natürlich auch auf die sich an-
^^Egende Musik ihren gebieterischen Einfluß geübt.
Err^a, ^r Kreuzigung möchte man der musikalischen Evangelisteu-
s.s?E>hlnng in der gestern gehörten Passion wegen ihrer Schärfe
Pen Vorzug geben, der Erlösungstod selbst hat bei der
f„,,?Uaus.Passton einen mächtigeren musikalischen Reflex ge-
während bei Johannes Bachs Kräfte auf der Höhe der
"Luisse nachzulassen scheinen.

Ein scharfer Contrast hat sich vor Allem in der musikali-
schen Charakteristik der Christus-Natur ergeben. Bei dem ver-
tonten Matthäus spricht mehr der überzeugte Gottessohn, bei
Johannes hat sich die Musik lyrischer gestaltet und erscheint das
Christuswesen in mehr schwärmerisch-hingebender, weicherer Art.
Hier wie dort verbinden sich die drei bekannten stereotypen Ele-
mente: Recitativ, Arie, Choral.
In dem erstgenannten hat Bach, der alte, hoch-moderne, eine
Plastik und Natürlichkeit gefunden, die ihn mit den Dramatikern
des Tages gleichen Schritt halten läßt.
Die Bach'schen Choräle stehen fest wie etwas Elementares.
Den Arien darf man, bei aller Pietät, etwas kritischer gegenüber-
treten. In dem Werke sind, wie immer bei Bach, Perlen von
Arien, neben ganz conventionellen, der Zeitmode entsprechenden,
veralteten Prunkstücken ausgestreut.
Prof. Wolfrum hatte dieses Mal tüchtig und rationell
gestrichen. Er hätte noch weniger scrupulös sein dürfen, nament-
lich einzelnen Arien gegenüber. So würde ich ohne jedes Be-
denken auch die Sopran-Flötenarie in ihrem kühlen Schnörkelstil
fallen lassen.
Von wahrhaft himmlischer Schönheit sind vor allem die
beiden Baßarien: „Betrachtet meine Seele" und „Mein theurer
Heiland", mit dem begleitenden Choral. Die erste in ihrer sanft
fließenden Lyrik ist so modern, daß sie gestern geschrieben sein
könnte, wäre ein Bach dazu vorhanden. Eine dritte kostbare
Perle ist die Altarie „Es ist vollbracht", deren erster Theil,
diese seelenvolle Hingebung, in so wunderbarem Contrast zu dem
fast kriegerischen Aufjubeln des zweiten (fast mehr Händels als
Bachs Signatur!) steht.
Die erste Aufführung der Johannes-Passion ist als eine der
glänzendsten Thaten des Bachvereins gerühmt worden. Auch
aus die Neubelebung kann der Dirigent und der Verein stolz sein.
Es wurde von Prof. Wolfrum in der bekannten, ihn aus-
zcichnenden Weise eben Fertiges, von Grund aus gewissenhaft
und künstlerisch Vorbereitetes, geboten. Das gewaltige, außer-
ordentlich schwierige Werk wurde unter des Dirigenten Leitung
zu vollem blühenden Leben erweckt.

Den Männerstimmen des Chors gebrach es gestern (nament-
lich im Tenor) etwas an Glanz, im Uebrigen zeigte sich der
Verein ans seiner bekannten unbestrittenen Höhe künstlerischer
Entwicklung. Musterhaft wurden, oft wirklich trefflich in der
Abtönung, die Choräle gesungen. Von den Chören gelangen die
dramatischen, schneidig und energievoll wiedcrgegeben, am besten.
Wundervoll hörte sich der Schlußchor an. Die großen, figurativen
Sätze nahm Prof. Wolfrum in lobenswerthem Bestreben außer-
ordentlich rasch. Das wirkte sehr glänzend, wenn auch nicht
immer das komplizirte polyphone Gewebe ganz klar dabei
hervortrat.
Der Chor hatte sich nicht gleich so richtig eingesungen. In
der grandiosen und sehr kritischen Eingangsnummer wollte sich
der präzise Rhythmus nicht gefügig einstellen.
Trefflich gehorchte, wie immer, das Orchester seinem Leiter.
An der Orgel bewährte sich Musikdirektor Radig als gediegener
Organist, der auch mit gutem Geschmack die Register behandelte.
Der Klang des Instrumentes ist im Ganzen ein sehr schöner.
Nur eine gewisse stechende Schärfe in höheren Lagen müßte noch
schwinden.
Eine unvergeßliche Erinnerung wird auch nach der gestrigen
Aufführung die Interpretation des Evangelisten durch Heinrich
Vogl bleiben. Einem so gewaltigen Künstler gegenüber ist
man fast verpflichtet, auch die kleinen Schwächen zu streifen. Zu
Anfang sprach (auch später bisweilen in frei angesetzten hohen
Noten) das obere Stimmregister momentan nicht ganz leicht an.
die berühmte Geißelpaffage — bei der ersten Vorführung, wie
ich höre ein Glanzpunkt — gerieth etwas gehastet — aber sonst!
— Das ist ein Glanz, eine Weichheit, eine Fülle von Klang in
diesem jung gebliebenen oder wieder verjüngten Tenor, wahrhaft
blendend! Und Vogl hat sich einen Stil geschaffen, — oder
vielleicht ist es der von Bach gewollte — den er so wunderbar
findet, der unvergleichlich dasteht. Unermüdlich, mit einer Klar-
heit, einer Fülle von Charakteristik, einer Empfindung, einer
Färbungskunst, einer dramatischen Wucht gestaltet er seine ge-
waltige Aufgabe in einer Sangesmeisterschaft, in der er wohl
unerreicht dastehen dürste. Ein Leben hindurch Wagnersänger
 
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