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Heidelberger Zeitung — 1899 (Januar bis Juni)

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https://doi.org/10.11588/diglit.39312#0577

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Fernsprech-Anschluß Nr. 82.

Fernsprech-Anschluß Nr. ^2


MonW, Len 5. Iü«i

1899.

Das Urtheil des Pariser Kassationshofes in
der Dreyfnssache.
Schon am Samstag hat der Pariser Kassationshof das
Urtheil in der Dreyfnssache gesprochen, während man es
eigentlich erst heute erwartete. Wie vorauszusehen war,
hat der Kassationshof für Wiederaufnahme des Verfahrens
gegen Drcyfus vor einem anderen Kriegsgericht entschieden.
Der Wortlaut des Urtheils ist in seinem entscheidenden
Theile folgender: Der Kassationshof cassirt und
annulirt das am 22. December 1894 von dem
ersten Kriegsgericht und dem Militärgou-
verneur von Paris gegen Alfred Dreyfus
gefällte Urtheil und verweist den Angeklagten vor das
Kriegsgericht zu Rennes, das hierzu durch besonderen
in der Rathskammer gefaßten Beschluß bezeichnet ist, zu
dem Ende, über folgende Fragen abgeurtheilt zu werden:
„Ist Dreyfus schuldig, im Jahre 1894 mit einer fremden
Macht oder deren Agenten Machenschaften getrieben oder
ein Einvernehmen unterhalten zu haben, um diese Macht
zu veranlassen, gegen Frankreich feindselige Handlungen zu
begehen oder einen Krieg gegen es zu unternehmen, und
ihr die Mittel dazu verschafft zu haben durch die Aus-
lieferung der Notizen und Aktenstücke, die in dem „Bordereau"
genannten Schriftstück erwähnt sind?" Dieses Urtheil
wird in das Register des ersten Kriegsgerichts des Militär-
gouvernements von Paris eingetragen.
Die Begründung des Urtheils hebt auf zwei neue
Thatsachen ab, welche die Wiederaufnahme des Ver-
fahrens gegen Dreyfus rechtfertigen : 1) sei ein
Schriftstück „Os onnuiUs äs v." dem Kriegsgericht
mitgetheilt worden, ohne daß der Angeklagte davon Nach-
richt erhielt, und 2) sei das Bordereau nicht von
Dreyfus geschrieben. ES ist klar, daß mit dieser
letzten Feststellung indirekt zugleich die Unschuld des Dreyfus,
der auf das Bordereau hin angeklagt war, ausgesprochen ist.
Der Kassationshof hat aber absichtlich einem Kriegsgericht
die Aufgabe zugewiesen, Dreyfus formell freizusprechen und
zwar mit Rücksicht auf Dreyfus, der das wünschte, und
mit Rücksicht auf die Armee, die das verhängniß-
volle Versehen selbst wieder gut machen soll. Die Mög-
lichkeit, daß das neue Kriegsgericht Dreyfus trotz alledem
schuldig sprechen wird, ist nach den Feststellungen des
Kassationshofs nicht in Betracht zu ziehen.
Als der Kassationshof sein Urtheil gesprochen hatte,
rief das im Saal anwesende Publikum: Es lebe die Ge-
rechtigkeit! Es lebe das Gesetz! Selten war eine An-
erkennung berechtigter als diese. Man darf Frankreich zu
diesem Ausgang der Verhandlung vor dem Kassationshofe
Glück wünschen.
Die für Dreyfus in Betracht kommende militärisch-
juristische Lage der Sache ist jetzt so, daß sowohl die Ver-
urthcilung als die Degradation des Dreyfus durch die
Jurisdiktion des Kassationshofes aus der Welt geschafft
worden sind. Dreyfus ist wieder französischerHoupt-
mann, aber von seinen Funktionen suspendirt und unter
Anklage des Landesverraths gestellt. Er bezieht von jetzt
ab auch wieder die Hälfte seines Gehalts und ist nicht
mehr Straf-, sondern Untersuchungs gefangener. Als
solcher wird er auch die Rückfahrt nach Frankreich antreten,
also wird seine Behandlung eine erheblich mildere sein, als
während der Hinfahrt.
Von der Revision des Prozesses Dreyfus hatten leiden-
schaftliche Revisionsgegner so etwas wie Aufruhr oder
gar eine Staatsumwälzung, eine Vernichtung der Armee
oder desgl. prophezeihet. Nichts derartiges ist indessen
eingetreten und nichts derartiges ist zu erwarten. Die
gestrige Demonstration gegen den Präsidenten der Republik,

die soeben gemeldet wird, zählt nicht dazu. Einige
Schuldige wird man zur Rechenschaft ziehen und dann wird
die Sache erledigt sein. Und Dreyfus selbst? Nun es
sollte uns nicht wundern, wenn Drcyfus in Frankreich noch
einmal populär wird und es zu Ansehen und Ehren bringt,
ja vielleicht einmal Minister wird. Nachdem er für die
Franzosen lange der Teufel war, ist er jetzt Einer, der un-
schuldig viel gelitten und, man muß sagen, mit Anstand
und Würde gelitten hat. Jedenfalls ist heute Jedermann
in Frankreich neugierig, den Gefangenen der Teufelsinsel
zu sehen. Wenn er bei seiner Ankunft, sowie vor dem
neuen Kriegsgericht eine gute Haltung bewahrt, so wird er
in anderem Sinne wie bisher der Held des Tages werden.

Deutsches Reich.
— Nach den Erklärungen der spanische« Regierung
sind für die Abtretung der Carolinen, Palaos und
Mariannen folgende Bedingungen zwischen Spanien und
Deutschland vereinbart worden: Spanien tritt die ihm ge-
hörenden Inselgruppen an Deutschland gegen eine Ent-
schädigung von 25 Millionen Pesetas (ca. 16 Mill. Mark)
ab. Spanien behält sich vor, auf jeder dieser Inselgruppen
je eine Kohlenstation zu errichten. Deutschland ist ver-
pflichtet, diese Besitzungen in Friedens- und Kriegszeiten
zu vertheidigen. Deutschland gesteht Spanien bei sich und
in seinen Besitzungen die Behandlung einer meistbegünstigten
Nation zu. Die 25 Millionen Pesetas sollen für keine
Spezialschuld Spaniens haften, sondern baar in den Staats-
schatz fließen. Einige oppositionelle spanische Blätter murren
zwar über die Abtretung der Inseln, ohne indeß zu ver-
langen, Spanien solle sie behalten, die übrige spanische
Presse begrüßt das Abkommen. Bemerkenswerth ist, daß
die englische Presse sich freundlich zu dem deutsch-spanischen
Abkommen äußert. Die deutschen linksliberalcn Blätter
heben hervor, daß der neue koloniale Erwerb keine große
Bedeutung habe; einige finden, daß der Preis zu hoch sei,
und sprechen für Ablehnung, was ja ein billiges Ver-
gnügen ist, da der Reichstag den Kauf sicher genehmigen
wird.
Hamburg, 3. Juni. Auf den telegraphischen Glück-
wunsch, den die Hamburg-Amerika-Linie anläßlich der Er-
werbung der Karolinen-, der Palaos- und der Mariannen-
inseln für das Deutsche Reich an den Kaiser gerichtet
hat, erhielt Direktor Balling folgende Antwort:
Der warme Glückwunsch zu der Erwerbung der Karolinen-,
Palaos- und Mariannen-Jnseln, der mir von Ihrer Seite zuge-
gangen ist» zeigt mir, daß die Bedeutung dieses Erwerbes für den
deutschen Handel und Berkehr und mein unablässiges Streben zur
Hebung derselben richtig gewürdigt worden ist. Ich danke des-
halb bestens für das Telegramm mit dem Wunsche, daß die deutsche
Schifffahrt auch aus den Fahrten zu dem n.uen deutschen Jnsel-
lande von Gottes Segen begleitet sein möge. Wilhelm.
Proeckelwitz (Ostpreußen), 3. Juni. Der Kaiser
ist heute Vormittag hier eingetroffen.
Baden. Ueber die Frage, wem das Ei genthum an
den Kirchen zustehe, bringt die amtliche Karlsruher
Zeitung folgende Kundgebung, die in ihrer ganzen
Fassung Aufsehen erregen muß:
Wem das Eigenthum an Kirchen zustehe, ist bekanntlich in
vielen Fällen eine sehr zweifelhafte Frage, deren Ent-
scheidung auch das Ortskirchensteuergefetz von 1888 absichtlich
unterlassen hat. Aus Anlaß der Vorbereitungen für die neuen
Grundbücher hat nun der Obersttftungs rath ohne Be-
nehmen milder Staatsbehörde wie es scheint sämmtliche
katholischen Pfarrer angewiesen, in ihren Gemeinden
darauf hinzuwirken, daß das Eigenthnmsrccht der Kirche
an den Kirchengebäuden von den weltlichen Gemein-
den anerkannt werde. Das Ministerium des Innern
hat aber diesem einseitigen Vorgehen gegenüber angeordnet,
daß ein Verzicht der politischen Gemeinde auf ihre
Rechte an Kirchen nur im Wege förmlicher, der Genehmi-

gung der Staats- und Kirchenbehörden bedürftiger Verein-
barungen mit den Kirchengemeinden erfolgen kann, und
daß hierbei festgestellt werde, ob und inwieweit ungeachtet des
Verzichts die politische Gemeinde au der Kirchenbaulast betheiligt
sei und ihr die herkömmliche Benützung des K i r ch e nth um rS
und der Kirchenuhr zu weltlichenZwecken zusteht. Wenn
gegen diese augenscheinlich zur Vermeidung künftiger Streitig-
keiten dienliche Anordnung 8 4 Geistliche des LandkopitelS
von Geisingen u. s. w. Protest erheben, weil das Ministerium
des Innern über Rechtsansprüche der Kirchen unbefugter Weise
entscheiden wolle, so läßt sich ein solches Vorgehen nur
aus gröblichen Mißverständnissen erkören.
— Die badischen Minister v. Brauer und Buchen-
berger, die sich einige Tage in der Reichshauptstadt
aufgehalten hatten, haben hier auch die Vorverhandlungen
über den Ankauf eines neuen Gesandtschafts-
gebäudes zum Abschluß gebracht. Die bisherige Dienst-
wohnung in der Behrenstraße ist in hohem Maße un-
genügend; Repräsentationsräume für den Gesandten sind
nicht vorhanden; auch die Wohnungen für die aus
Karlsruhe zu den Sitzungen des Bundesrathes und des
Reichstages hier häufig eintreffenden Kommissare sind
durchweg unbefriedigend. Seit längerer Zeit wurde nach
einem besseren Dienstgebäude Umschau gehalten; endlich ist
jetzt ein solches in dem neuen Hause Lennestraße Nr. 9
gefunden, in dem bisher der kommandirende Admiral
v. Knorr und der amerikanische Botschafter White ihre
Wohnung haben. Das Haus zeichnet sich durch besonders
günstige Lage in der Nähe des Reichstages und der Ge-
schäftshäuser der Reichsbehörden sowie der sächsischen,
württembergischen und bayerischen Gesandtschaft aus; der
Kaufpreis entspricht den Berliner Gebäudewerthen und wird
nicht unwesentlich vermindert werden durch den später»
Verkauf des bisherigen Gesandtschaftsgebäudes, dessen Lage
für größere Bankunternehmungen besonders günstig ist.
Eine entsprechende Vorlage dürfte demnächst den badischen
Kammern zugehen.
— Der Bad. Beobachter bringt heute die bestimmte
Nachricht, daß die bisherigen Abgeordneten Dr. Kopf und
Birken mayer bei der bevorstehenden Neuwahl kein Man-
dat mehr annehmen. Auch bet verschiedenen anderen Be-
zirken hätte es wahrscheinlich Schwierigkeiten, die bisheri-
gen Mandatsinhaber zu neuer Kandidatur zu bewegen.
Karlsruhe, 3. Juni. Wie die Bad. Landes-
zeitung ihren Lesern mittheilt, ist das genannte Blatt
durch Kauf in den alleinigen Besitz des gegenwärtigen
Chefredacteurs der Karlsruher Zeitung, Herrn Julius Katz,
übergegangen. Der Besitzwechsel vollzieht sich am 1. Juli
d. I., wenn bis dahin die von Herrn Katz erbetene Ent-
lassung aus seiner gegenwärtigen Stellung genehmigt und
von dem dem Engeren Ausschuß der nationalliberalen
Partei zustehenden Vorkaufsrechte kein Gebrauch gemacht
worden ist.
Bayern. München, 3. Juni. Die Münchener N.
Nachr. bezeichnen die Nachricht über eine Verlobung
der Prinzessin Mathilde mit dem Erzherzog Franz
Ferdinand als der Grundlage entbehrend.
Württemberg. Beim Etat der Zentralstelle für die
Landwirthschaft gab der Minister des Innern entsprechend
einer im Dezember v. I. von der Kammer gestellten An-
frage Auskunft über die bisher mit Getreideverkaufs-
genosse nschaftcn und Getreidelagerhäusern gemachten
Erfahrungen. Er hatte zu diesem Behufe sich auf diplo-
matischem Wege von den Regierungen der größeren Bundes-
staaten ein reiches Material verschafft. Sind allenthalben
die Erfahrungen noch zu kurz, um ein sicheres Urtheil
über Prosperität und Rentabilität derartiger Unternehmungen
zu ermöglichen, so lauteten speziell die Mittheilungen des
Ministers über die württembergischen Erfahrungen nicht

15)

Josephineus Glück.
Erzählung von A. von der Elbe.

(Fortsetzung.)

„Sollte es möglich sein, daß die kleine Kokette ihn für sich
gewinnt? Ich zittere, ihn zu verlieren. O Bruno, wie ich
Dich liebe, und wie ick für Dein Glück bange! Ich —"
So weit hatte Josephine in das blaue Büchlein geschrieben,
als ihr Vater unerwartet eintrat, und sie, zusammenschreckend,
thr Heft in die Tasche gleiten ließ.
„Komm mit, Kind." sagte der Rath eifrig, »der Gärtner
ist da, der das Rondel ändern will- Er möchte Deine
Meinung über die neue Anlage hören."
Ergeben folgte Josephine ihrem Vater in den Garten und
betheiligte sich zerstreut an der Männer Beratdung. Als
Man zu einem Entschluß gekommen war, und Steinberg mit
dem Gartenkünstler weiter ging, kehrte die Tochter ins Haus
Zurück, aus's Neue ganz versenkt in den Gedankengan i, den
der Vater durch seinen Eintritt jäh unterbrochen hatte-
Mechanisch und in Nachsinnen verloren, setzte sic sich vor
wr Nähtischchen im Gartensaale. Von unwiderstehlichem
Drange getrieben, zog sie das Notizbuch aus der Tasche und
begann weiter zu schreiben:
, »Ich würde ja auf jede selbstsüchtige Hoffnung gern ver-
zichten, wenn ich nur sein Glück gesichert sähe, aber mit Cora
dar. Hasten —"
»Fräulein —'
Josephine fuhr herum. Die Köchin stand mit hochrothem
Kops in der Thür.
»Was willst Du?"
. »Ach, Fräulein, kommen Sie doch mal, der Auflauf geht
Nicht —'

»Vielleicht ist der Ofen nicht beiß genug?"
„Doch ganz gewiß. Aber ich glaube, wir können den Auf-
lauf nicht geben — foll ich rasch — ?"
. Josephine, die das Büchelchen beim Eintritt des Mädchens
»n der Schieblade ihres Nähtisches verborgen hatte, sprang

empor. Ihres Vaters Laune litt, wenn ein mißlungenes
Gericht aus den Tisch kam. Auch Bruno war nicht gleich-
giftig gegen die Freuden der Tafel, sie mußte sorgen, daß
geschwind eine andere süße Speise hergerichtet wurde. Sie
war in diesem Augenblicke ganz Hausfrau und eilte mit der
Köchin hinaus. ^ .
Einige Minuten, nachdem Josephine das Eßzimmer ver-
lassen hatte, trat Bruno ein. wie er ost, um diese Zeit, un-
gerufen that- Der Tisch war gedeckt, und man sah, daß
gleich angerichtet werden würde.
Bruno stand in der offenen Thür der Veranda und ae-
wahrte Steinberg mit dem Gartenmeister im Gespräch. Es
war von Aenderungen die Rede gewesen, und der Assessor
begriff die kleine Verzögerung des Mittagessens. Er kehrte
ins Zimmer zurück, und setzte sich, wie schon oft, vor den
Nähtisch der Freundin.
Spielend zog er die Schieblade auf, das hübsche blaue
Büchlein, das er noch nicht kannte, fiel ihm ins Auge. Neu-
gierig nahm er's in die Hand, blätterte, und sah von Jose-
Phinens klarer, zierlicher Schrift hier und da und fast auf
jeder Eeite feinen Namen. Seine Eitelkeit fühlte sich ge-
schmeichelt. Brennendes Verlangen, genauere Einsicht zu
nehmen, erwachte. Er wußte, daß er eine Indiskretion be-
gehe, daß es selbstverständlich, daß cs seine Schuldigkeit sei.
das Tagebuch, das mußte es sein, sofort zurück zu legen; als
jetzt aber der Hausherr die Treppe zur Veranda erstieg, und
im nächsten Augenblick eintreten konnte, schob Bruno den
Fund, von prickelndem Anreiz getrieben, hastig in die Brust-
tasche, schloß die Schieblade, und trat dem Rath mit unbe-
fangenem Lächeln entgegen.
Man ging zu Tisch. Josephine war etwas erhitzt und
zerstreut. Gedanken an ihr Gespräch mit der Moser kreuzten
sich wunderlich mit Haussrauensorge um das verdorbene Ge-
richt, und Spannung, wie das rasch eingeschobene ausfallen
möge.
Steinberg, ganz erfüllt von seinen neuen Gartenanlagen,
trug die Kosten der Unterhaltung, der Bruno scheinbar ge-
fesselt folgte, während er meinte, das Büchlein in seiner

Tasche brennen zu fühlen, und den Augenblick ersehnte, in
dem er es für sich haben würde. Oder sollte er brav sein,
nach Tisch einen unbewachten Augenblick wahrnehmen, und
das Heftchen an seinen Platz zurücklegen? Wenn er nur
seinen Namen nicht so oft gesehen hätte. Er mußte doch
wissen — , ,
Josephine schien ihm heute nicht ganz in ihrem gewöhn-
lichen Gleichgewicht. Sie interessirte ihn indes mehr denn
je, und der Gedanke. Einblick in das Innenleben dieser ver-
schlossenen Natur zu gewinnen, zu erfahren, wie sie über ihn
denke, für ihn fühle, hatte einen überwältigenden Reiz für ihn.
Nach Tisch zog Steinberg die Tochter mit sich in den
Garten, in dem er ihr noch mancherlei zeigen wollte-
Der Assessor löste sich, unter dem Vorwände einer eiligen
Arbeit, von seinem sonst üblichen Mitschlendern, und eilte in
sein Zimmer, wo er sich in einen Lehnstuhl warf, und. so
gespannt wie nie zuvor im Leben, den Raub am Gehetmniß
der Freundin beging.
Ueberschüttet und erregt von dieser Liebesfülle, saß er da,
ausnehmend, was er genoß, wie einen süßen Duft, wie das
Kosen einer schmeichelnd weichen Hand, oder einen Plötzlichen
Reichthum, dessen Ueberschwang er mit Staunen empfing.
Wie er für sich alle diese Gaben verwenden, ob er sie
freudig Hinnehmen sollte, daran dachte er in der ersten Ueber-
raschung nicht. . ^
Seine Eitelkeit schwamm in einem lauen Bade süßesten

Genügens.
Sie, Josephe, zu der er von leber m Verehrung aufge-
sehen, sie fand er jetzt in demüthiger Liebe ihn anberend.
Welch eine gänzlich veränderte Stellung, welch ein Triumph
für ihn! Er stieg mehrere Stufen in seiner eigenen Werth-
schätzung, und fein Selbstgefühl schwoll bis zum Uebcrmuth.
Voll Ucverlegenheit sah er auf das arme, nach seiner Liebe
schmachtende Weib hinab, das er beglücken oder durch Ab-
lehnung ins Elend stürzen konnte, ganz nach seinem Be-

lieben. —

(Fortsetzung folgt.)
 
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