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Heidelberger Zeitung — 1899 (Januar bis Juni)

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https://doi.org/10.11588/diglit.39312#0069

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und Heu Plakatsäulen.

Telephon-Anschluß Nr. 82.

Telephon-Anschluß Nr. 82.

18.

DmilttstW, dt« 19. Zaum

1889.

Wochenchronik.
(Vom 8. bis zum 14. Januar.)
Jan. 8: In Nordschleswig sind eine Anzahl dänischer
Unterthanen ausgewiesen worden, um indirekt die
dort betriebene dänische Agitation zu treffen. Das
Mittel scheint zu wirken.
„ 9.: In der D re y fus - Affaire hat sich ein neuer
Zwischenfall ereignet. Der von seinem Amt zurllck-
getretene Senatspräsident am Kaffationshof, Quesnay
de Beaurepaire, erhebt gegen den Kassationshof den
Vorwurf, nicht unbefangen, sondern mit einem Vor-
urthetl zu Gunsten des Dreyfus vorgegangen zu sein.
„ 10.: Der Reichstag tritt nach den Wcihnachtsferien
wieder zusammen. Am ersten Tage verhandelt er die
Interpellation über die Fleischnoth. Der Regic-
rungsvertreter bezeichnet eine Fleischnoth als nicht
vorhanden.
> „ 11.: Die Lage auf den Philippinen wird als sehr
ungünstig für die Amerikaner bezeichnet.
„ 12.: Der Reichstag beginnt die erste Lesung der Mil i-
tärvorlage; cs gilt als sicher, daß die Vorlage
angenommen werden wird.
„ 13.: In Amerika werden Lügennachrichten verbreitet,
als ob Deutschland die Philippinen gegen Amerika
unterstütze. Der Zweck dieses Schwindels ist der, die
amerikanische Bevölkerung der Uebernahme des Protek-
torats über die Philippinen geneigter zu machen..
„ 14.: Zwischen Rußland und dem Emir von Afghani-
stan soll ein Bündniß abgeschlossen worden sein.

Politische Um schau.
Heidelberg, 19. Januar.
Der amerikanische Botschafter in Berlin, Mr.
White, hat gegenüber einem Interviewer der Associated
Presse bemerkt, die ganze Entrüstungsbewegung ge-
gen Deutschland in den Vereinigten Staaten gehe
von der geringen Anzahl derjenigen Leute aus, die im
Trüben fischen möchten; Deutschland wisse, daß seine
einzig richtige Politik im fernen Osten darin bestehen müsse,
mit Amerika auf gutem Fuße zu verbleiben. Die deutsche
Regierung habe von vornherein begriffen, wie der Krieg
mir Spanien enden würde, sie sei mehr und mehr geneigt,
Mir Amerika zusammen zu arbeiten zur Ausdehnung des
Handels und der Civilisation. Die neue Ordnung der
Dinge in Sachen der Fleischeinfuhr werde den Ameri-
kanern viel günstiger sein als die alte. Hoffentlich tragen
diese Worte des Botschafters mit dazu bei, daß dem ame-
rikanischen Volk die Augen aufgehen und daß cs die cor-
rekte Haltung Deutschlands erkennt und anerkennt.
Die russische Regierung hat ein zweites Rund-
schreiben in Betreff der vom Zaren angeregten Fried ens-
und Abrüstungskonferenz ergehen lassen. Nach der
Times schlägt sie darin vor, eine Verständigung zwischen
^en Mächten über folgende Punkte zu versuchen: die Land-
end Seestreitkräfte, sowie die entsprechenden Kriegsbudgets
mr einen bestimmten Zeitraum nicht zu vermehren; ebenso
Mittel ausfindig zu machen, um diese Strcitkräfte und diese
Budgets in Zukunft zu beschränken; den Gebrauch irgend
einer neuen Waffe oder eines neuen Sprengstoffes oder
kines neuen Pulvers, welches leistungsfähiger als das ge-
Senwärtig für Gewehre und Geschütze im Gebrauch befind-
liche sei, zu untersagen; den Gebrauch der vorhandenen,
starkwirkenden Sprengstoffe im Kriege zu beschränken und
^enso das Werfen irgend einer Art von Sprengstoff aus
Ballons oder durch ähnliche Einrichtungen zu verbieten;
strner den Gebrauch unterirdischer Torpedoboote oder Tauch-
Mparate und irgend eines andern ähnlichen Zerstörungs-
ststttels im Seekrieg zu verbieten; den Bau von Ramm-
ichiffcn zu unterlassen; die Festsetzungen der Genfer Con-
"sntion von 1864 auch auf den Seekrieg auszudehnen;
Schiffe und Boote zur Rettung Schiffbrüchiger während
st"d nach den Seeschlachten für neutral zu erklären; die

Erklärung über das Kricgsrecht zu revidiren, die die
Brüsseler Konferenz von 1874 ausgearbeitet und die bis
jetzt keine Bestätigung erhalten habe; im Grundsatz die
Anerbietung guter Dienste anzunehmen zur Vermittlung und
schiedsrichterlichen Entscheidung in Fällen, die für Maß-
nahmen zur Verhinderung bewaffneter Konflikte zwi-
schen Völkern geeignet seien; sich über die Art ihrer
Anwendung zu verständigen und einheitliche Ausfüh-
rungsbestimmungen für ihren Gebrauch aufzustellen. —
Dieses zweite Rundschreiben hat eine wesentlich andere
Aufnahme gefunden wie die erste Anregung des
Zaren; es wird überall nur sehr wenig beachtet.
Den guten Willen des Zaren anläßlich dieses zweiten
Rundschreibens nochmals zu preisen und in den Himmel
zu heben, wie das das erste Mal leider geschehen ist, wäre
fade, der praktische Werth des Friedens- und Abrüstungs-
vorschlags ist je länger je geringer taxirt worden. Direkt
dagegen zu sprechen ist nicht Jedermanns Sache, denn die
Masse hält noch an der conventionellen Friedens- und
Friedfertigkeitsverhimmlung fest; so schweigt man also,
oder geht mit kurzen Worten über das Rundschreiben hinweg.

Deutsches Reich
— Der Kaiser empfing am 18. ds. den chinesi-
schen Gesandten, der den dem Kaiser verliehenen chinesi-
schen Orden vom Doppelten Drachen überreichte.
— Ueber den Aufenthalt des Prinzen und der
Prinzessin Heinrich meldet der Ostas. Lloyd, daß
Prinz und Prinzessin Weihnachten sowie Neujahr in Hong-
kong verbrachten. Mitte Januar gedachten sie eine Reise
nach Siam anzutrcten. um dem Könige und der Königin
von Siam einen Besuch abzustatten. Vom Lande des
weißen Elephanten bcgiebt sich das prinzliche Paar nach
Kiautschau, via Shanghai. Die Prinzessin beabsichtigt mit
dem Reichspostdampfer „Prinz Heinrich" im April wieder
die Heimreise anzutrcten.
— Interessante Einblicke in die Finanzlage des
Reiches gewährt eine der Budgetkommission des
Reichstages übergebene amtliche Zusammenstellung, die
nachwcist, aus welchen Einfuhrartikeln sich das Mehr an
Zolleinnahmen in den ersten acht Monaten des laufenden
Etatsjahres zusammensetzt. Dieses Mehr beträgt gegen
dieselbe Zeit des Vorjahres 26 948 773 Mark. Von diesen
Mehreinnahmen entstammen 15 909 000 Mark aus der
vermehrten Einfuhr von Weizen, Roggen, Gerste und Mais
und 4169 783 Mark aus der gesteigerten F lei schein-
fuhr. Die Schmalzeinfuhr hat außerdem eine Mehr-
eiunahme von 1071242 Mark ergeben. Abgesehen hier-
von haben erhebliche Mehreinnahmen ergeben Bau- und
Nutzholz mit 1371735 Mark, Kaffee mit 3339520
Mark, Heringe mit 684006 Mark, Thee mit 846 600
Mark, wogegen Petroleum eine Mindereinnahme von
1 514 106 Mark nachweist. Also reichlich drei Viertel der
gesummten Mehreinnahmen resultiren aus der gesteigerten
Einfuhr von Getreide und Fleisch.
Deutscher Reichstag. Berlin, 18. Jan. Präsident
Graf Ballestr cm eröffnet die Sitzung um 1 Uhr 20
Min. Tagesordnung: Antrag Klinckowström, betreffend
Einfügung eines Paragraphen in das Strafgesetzbuch, wo-
nach Beamte und Mitglieder der Presse wegen Veröf-
fentlichung geheimer amtlicher Schriftstücke
zu bestrafen sind.
Graf Klinckowström (cons.): Der Antrag richtet sich be-
sonders gegen die Sozialdemokratie, die durch derartige Veröffent-
lichungen Männer, die Stützen des Staates sein sollten, vergiftet.
Bei den Beamten liegen Vertrauensbruch und Diebstahl, bei der
Presse Hehlerei und vielfach Bestechungen vor. Redner verlangt
die Ueberweisung an eine Commission.

Abg. Lenzmann (freis. Volksp.): Seine Partei sei gegen
den Antrag, der viel Reaktionäres enthalte. Auch er halte den
Beamten, der Staatsgeheimnisse verrathe, für sehr unanständig
und ehrlos, aber zu seiner Bestrafung genüge ein Discip linarmittel.
Abg. H ofinann-Dillenburg (ntl.): Der Antrag sei über-
flüssig, wenn ein Bedürfniß dafür vorliege, hätte die Regierung
ihn einbringen sollen.
Abg. Liebknecht (Soc.): Die conservative Partei habe als
Grund für den Antrag zumeist die vorzeitige Veröffentlichung des
Etats genannt. Woher aber soll ein Redact eur wissen, ob ein
ihm zugesandter Erlaß geheim ist? Was sagt die Rechte zu der
Veröffentlichung des Geheimvertrages mit Rußland durch den
Fürsten Bismarck? Da handelte es sich um eins der wichtigsten
Staatsinteressen. Die Veröffentlichungen der socialdemokratischen
Blätter dienten gerade dem Staatsinteresse. Die conservative
Partei sei heute völlig verknöchert. Die Annahme des Antrages
würde die Abdankung des Reichstages bedeuten.
Abg. v- Kardorff (Reichsp.): Der Ant rag entspreche dem
Bedürfniß, wenn auch mancher geheime Erlaß besser nicht geheim
gewesen wäre. Seine Partei werde für den Antrag stimmen.
Es folgen persönliche Bemerkungen der Abgg. Frhr. v. Stumm
(Reichsp.) und Lenzmann (freis. Volksp.).
Für die Commissionsberathung stimmen nur die beiden conser-
vativen Parteien; sie ist also abgelehnt.
Es folgte der Antrag Agster, betr. obligatorische
gewerbliche Schiedsgerichte.
Abg. Zu bei! (Soc.) befürwortet den Antrag, der die Ge-
werbegerichte obligatorisch machen und auf alle Gewerbe. Berg-
bau, Land- und Forstwirthschaft, Fischerei, Handel und Verkehr
ausdehnen will, die Theilnahme an den Wahlen entsprechend
ausdehnt und endlich Wahlrecht und Wählbarkeit auf das M.
Lebensjahr herabsetzt. Vielfach sei das Verlangen der Arbeit-
nehmer auf Einführung der Gewerbegerichte ab gelehnt worden.
Die Einrichtung wirke aber äußerst wohlthuend, deshalb müsse
sie obligatorisch sein und die Unklarheiten über die Competenz
der Gewerbegerichte beseitigt werden. Auch seien sie auf die
Arbeiterinnen auszudehnen.
Zu dem Thema liegen noch andere Anträge vor: von Trim-
bs r »- H i tz e auf Errichtung kaufmännischer Schiedsgerichte;
ferner eine Novelle zu dem Gesetz betreffend die Gewerbegerichte,
durch die die geordnete Aufstellung der Wählerlisten wirksamer
gesichert und die Errichtung von Gcwerbegertchte» obligatorisch
gemacht wird, sowie den Landesregierungen Ausnahmen wegen
mangelnden Bedürfnisses zu gestatten, endlich die Competenz der
Gewerbegerichte dahin zu erweitern, daß sie auch ohne An-
rufung der streitenden Parteien für die Erledigung von Streitig-
keiten verwendet werden können.
Gleichzeitig wird ein Antrag Nasser man» in die Ver-
handlung einbezogen, wonach zur Entscheidung von Streitigkeiten
zwischen Prinzipal und Handlungsgehilfen bezw. Lehrlingen kauf-
männische Schiedsgerichte errichtet werden.
Abg. Trimborn (Centn): Es bestehe kein Bedürfniß, die
Gewerbegerichte auf das Gesinde auszubehnen. Die Frage der
Herabsetzung des Wahlrechtes auf das 20. Lebensjahr sei noch
nicht reif. Das bestehende Wahlverfahren sei indessen nicht zweck-
mäßig , weil es den Bedürfnissen nicht entspreche. Die Funk-
tionen des Gewerbegerichtes als Einigungsamt seien sehr segens-
reich, könnten aber noch erweitert werden.
Staatssekretär Nieberding erinne.t au die vielen gesetz-
geberischen Aufgaben, die noch zu erledigen seien. Das Reichs-
justizamt sei noch immer mit schwerer Arbeit belastet. Bezüglich
der kaufmännischen Schiedsgerichte seien bereits Kommissions-
verhandlungen eingeleitet. Wie die Einrichtung gestaltet würde,
darüber sei noch nicht entschieden. Wenn die Schiedsgerichte
den Amtsgerichten angegliedert würden, so würden die kleinen
Amtsgerichte sehr überlastet werden. Aber dazu habe weder die
preußische Regierung, noch das Reichsamt Stellung genommen.
Abg. Frhr. v. Stumm (Reichsp.) erklärt, zwei Drittel der
Arbeiter habe kein Bedürfniß nach Gewerbegerichten geäußert.
Daß die Sozialdemokraten mit der Thätigkeit der Gewerbege-
richte zufrieden sind, sei erklärlich, bestehe doch ein großer Theil
der Arbeitgeber und noch mehr der Arbeitnehmer aus ihrem An-
hang. Er halte es für besser, solche Streitigkeiten von den Amts-
gerichten entscheiden zu lassen. Das allgemeine Wahlrecht sei
nur dazu angethan, die Arbeiter aufzuregen. An Orten, wo
Gcwerbegertchte eingeführt seien, habe die Sozialdemokratie einen
viel größeren Einfluß, als an Orten ohne Gewerbegericht. Mit
der Landagitation habe die Sozialdemokratie schlechte Geschäfte
gemacht. Nun wolle sie mit den Gewerbegerichten die Land-
und Ortsarbeiter bestricken. Redner spricht sich sodann gegen die
kaufmännischen Schiedsgerichte aus.
Abg. Hilbeck (natl.) hat im Dortmunder Bezirk den Segen
der Gewerbegerichte kennen gelernt; besonders bezüglich der

H)

Das Bachstelzchen.
Novelle von Martha Renate Fischer.

(Fortsetzung.)
"" dos ist aber keine gebratene Taube! Du — Du
""1 Spatzen l" Und er faßte sie bei der Schulter,
j-iottelle sie und lachte. Aenncheu that einen kleinen Schrei,
den Arm über das Gesicht und lachte auch.
^ Und dann Hub die Jagd auf den Spatz an, der an der
sein Köpfchen stieß. Zwei eifrige Jäger fahndeten
tz! den kleinen Kerl im rostbraunen Federröckchcn, kamen
« oo Seile, beinah einer in des anderen Arm.
S>s Otto zufaßte und das Mädchen emporhob.
d>Ln " zur guten Stunde; denn sie erwischte das Feder-
HzOOchen, hielt cs in beiden Händen geborgen. Und beide
de» ^ sireckie sie plötzlich schalkhaft vor Otto's Gesichts gab
Spatz frei — und der Spatz küßte ihn. k
ist aber keine gebratene Taubei Ei — ich weiß ei-
sig» der sich mit Spatzen küßt." Und sie hatte mit einemmale
»Panz laute, klingende Stimme.
^er hob das Lachduett an. Und wieder begann die
^ den Spatz. Otto deklamirte ihm Neckverslein. Sie
und jagten, kriegten rothe Wangen und brennende

Es

roch brenzlich vom Herd.

Aer Brei! Der Brei!"
>ENnchxn stürzte zu Hille.
'oß'^otz doch nur." sagte Otto, „ich bin dran schuld. Du»
. Z'ch, kosten."
^er « Monden und kosteten, speisten aus dem gleichen Löffel-
Alck war gut; aber er war übergekocht. In dem Äugen-
O,, die Mutter ein. und brachte den Alllag mit.
blieb noch ein Weilchen, dem Bachstelzchen zum
> Och.»' Aber es war keine Gewitterneigung vorhanden. Da
" das Fenster auf, jagte den Sperling ins Freie
Am'x e dann die Mutter voll verlegener Dankbarkeit.
" nächsten Tage war Aennchen wieder in der Küche,

Höne die Hausthür sich drehen. Aber sie schmetterte nicht,
sie wurde sacht in's Schloß gedrückt
Danach klinkte die Küchenthür und Otto spähte herein.
Er kam schnell heran, haschte nach ihrem Blick, stand, ohne
zu sprechen, neben ihr. Und plötzlich faßte er zu mit seinen
beiden Armen.
Er packte ihren Kopf und drückte ihn an seine Brust,
preßte seinen Kopf herunter, sodaß Wange an Wange lag —
und er hob ihr Gesicht ganz zart empor, um sie zu küssen.
Ihr Gesicht stand in Flammen. Ihre Augen redeten. Sie
schrieen ihm zu: Erbarme Dich! Schrieen es so gellend, daß
er erzitterte, schwer Athem schöpfte und sie frei gab. Und
die Augen sprachen weiter, sagten: Sieh! Was ich für ein
armes Ding bin! Ich gehör Dir ja. Ich möcht' ja für dich
sterben! Aber doch-erbarme Dich!
Ja-er wollte sie doch nicht zertreten-
WaS fiel ihm ein-
Aennchen saß auf dem Schemel» hielt ihr Gesicht in beiden
Händen und weinte. Sie hielt die Arme dicht neben einander,
sah dadurch schmal und geduckt aus. Und sie sah aus, als
fürchte sie sich.
Sie hörte einen hastigen Schritt sich entfernen, hörte das
Klappen der Thür- Und nun hob sie den Kopf und starrte,
und ihre Augen sprachen nichts vor großem Jammer.

XI.
Auf dem Heimwege redete der Alte und fragte allerlei.
Und dav Wetter war nicht danach, wenn auch der Wind in
den Rücken blies.
„Hörst mich?"
„Ja, Vater."
„Ick denk, Du bist stumm geworden."
„Nee, aber dat is windig."
„Du — ick bin taub, ick habe nich gehört, Wat De gesagt

„Es ist so windig," wiederholte Aennchen hochdeutsch.
„Schön." sagte der Alte. „Hast De Aerger gehatt?"
„Nein."

„Du Haft aber doch geweent?"
„Ich?"
„Ja. Westerwcgen denn?"
„Ich dacht'," sagte sie leise, „der Kartoffelbrei hätte ge-
brannt."
„Nee — der hatte nich gebrannt. Weiter war nischt?"
Sie hustete, was sie konnte. Dabei stieß sie ein Wort
heraus. Der Alte verstand, sie hätte nein gesagt. Das war
nun so. Da ging was vor. Aber darüber mußte sie fort-
kommen-
Daheim hatte die Nachbarin gebeizt, daß der Ofen glühte.
Aennchen machte die Fenster aus und die Thür zu des Alten
Kammer. Dann kleidete sie sich aus und fing gleich an, zu
wirthschasten, hängte das straffe Röckchen an die Wand,
schlüpfte in die ausgewachsene Jacke und band die Sackschürze vor.
Sie stellte alles für den nächsten Tag zurecht, scheuerte
die Gefäße, fegte Stube und Kammer und saß dann am
Tisch mit der Näharbeit; sie versohlte des Vaters neue
Strümpfe mit Stücken grober Leinewand. Als sie fertig
war, nahm sie den Strickstrumpf. Sie saß an einer Seite
des Tisches, der Vater gegenüber, just so, wie sie mit Otto
Wunders gesessen batte.
Und im Gedenken daran vergrößerten sich hilflos ihre
Augen.
Der Alle studirte in der Bibel — sang im Geiste die
Psalmen Davids und dichtete neue Verse dazu. Sein Gesicht
sah grau und steif aus wie eine Larve. Aber innen baute
er Tempel, räucherte Myrrhen und Aloe und wölbte Rosen-
hallen. . ^ ^ .
Er schmeckte das jenseitige Leben, wo er nicht mehr ein
zusammengeschnalltes Männchen sein würde. Sein Leib
tauchte in ein Jungbad. Die Sehnen wurden elastisch, und
innen wuchsen Flügel, die den Schritt beschwingten. Er
dachte auch an Speise und Trank, die herrlich munden wür-
den. Die Himmelskost stellte er sich vor, als ein Schlürfen
aus weinsprudelndem Quell und ein Brechen herrlicher
Früchte, die immer in Reife prangten.
(Fortsetzung folgt.)
 
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